Plädoyer für mehr Kunst im Raum
Wenn ich die Bibliothek durch den Mitarbeitereingang am Posthof (Ostflügel) betrete, treffe ich manchmal den Fisch. Kennen Sie ihn? Diesen goldenen, vor einer seltsamen Seetulpe im schmiedeeisernen Gitter schwimmenden, an einem Wandfenster im Flur. Mir sind weder Künstler bekannt, noch weiß ich, seit wann er sich dort befindet. Möglicherweise hat er mit der ehemaligen Hausmeisterwohnung auf dieser Etage zu tun. An manchen Tagen sehe ich den Fisch nicht. Dann wieder sehe ich ihn und ganz im Hintergrund meiner Gedanken kommt die Frage: Warum der Fisch? Was soll er bedeuten? Symbol von Jesus oder Petrus. Er steht in der Heraldik auch für Verschwiegenheit, Geheimnis. Hat das irgendetwas mit Büchern zu tun? Mit mir? Mit Wissen oder Nicht-Wissen? Oder ist es einfach ein Namenswappen des Künstlers? Die Frage darf sich einfach über Jahre in mir ausbreiten, bis ich eines Tages eine für mich befriedigende Antwort gefunden habe.
Oft nutze ich den Mitarbeitereingang auf der Westseite des Leipziger Hauses. Auch hier kommt man unweigerlich an bemerkenswertem künstlerischem Interieur vorbei, etwa im Geäudeteil von 1916 an den wunderbaren Supraporten von Kurt Feuerriegel und Fritz Ernst Rentsch[1] oder im Treppenhaus des Dritten Erweiterungsbaus (1959-1963) an den großen Sgraffiti. Diese Tafeln von Heiner Vogel und Gerd Pötzschig zeigen die Entwicklung von Schrift, Buch und Lesen von den ägyptischen Hieroglyphen bis in die 1960er Jahre. Aus dem Buch erwuchs das Wissen, das die technischen Erfindungen und Entdeckungen möglich machte. Der Mensch beherrscht die Welt durch Bildung. Während mich diese sozialistische Kunst mit ihren „ideologisch korrekten“ Motiven unweigerlich an eine Kulturpolitik sozialistischer Wahrheit erinnert, also meine Sozialisation meinen Blick auf das Bild prägt, bewundere ich heute mehr und mehr die hier angewandte und seit der Renaissance gebräuchliche Kratzputztechnik.
Es gab Zeiten, da kam ich auf dem Weg in mein Büro (Büros und Etagen wechselten immer mal wieder) an diesen und jenen Kunstwerken vorbei, die im Rahmen von Ausstellungen aufgehängt waren. Bei einigen erging es mir wie beim Fisch. Etwa bei dem großen Pfeil, der uns lange Zeit an der Wand neben dem Sitzungszimmer (Reichsbibliothek) leuchtete und an dessen Urheber ich mich nicht mehr erinnere. Der Arbeitstag begann gut, wenn der Pfeil mir ja den Weg wies. 2003 gab es einige Kunstwerke in den Fluren im Westflügel, wo seinerzeit das Deutsche Buch- und Schriftmuseum untergebracht war, die mich nachhaltig beeindruckten: Barbara Beisinghoffs „Gedankenbilder“. Intensive Farben, genähte Linien – anregende Papiermacherkunst. Stofflich. Kartografisch. Es handelte sich vor allem um übermalte Wasserzeichen und Wasserstrahlzeichnungen in handgeschöpftem Papier. Beisinghoff hatte ihre Gedanken, ihre Wirklichkeit verwandelt und ich erblickte jedes Mal neue, eigene Geschichten. Über längere Zeit kam ich täglich an den Bildern vorbei und freute mich, wenn ich sie sah. Die Titel lauten: „Großes Rot“, „Versunken“, „Ich flog“, „Gedanken auf Blau“… Poetisch, oder? Beisinghoff gab mir Farbe, erweiterte den Raum.
Seit 2011 bot sich beim Verlassen der Bibliothek aus dem Haupteingang – vor allem im Dunkeln – ein besonderes Bild: man konnte die Buchstaben von Boris Petrovskys Installation im Vierten Erweiterungsbau (2007-2010) leuchten sehen: „Matrix ABC 52“[2]. Seit der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums und zum Auftakt des 100. Jubiläums der Bibliothek blinken Botschaften in Rot und Blau durch die Fenster zum Deutschen Platz. Dauerhafte Leuchtstoffröhrenkunst wirkt hier interaktiv, da die aus 52 Buchstaben aufscheinenden Wörter im Museum über Handy oder Tastatur eingegeben werden können. Die Matrix gibt nichts vor. Sie gibt Zeichen, sie gibt Farbe. Ich kann beim Betrachten unbefangen bleiben, ich kann sie strikt visuell aufnehmen oder als Spiel betrachten. Ich kann sie aber auch wichtig nehmen: Zeichen werden Information. Aus Schrift wird Wissen. Eine Bibliothek, das sind Buchstaben, die Bewegung erzeugen.
Kunst im Arbeitsalltag erhöht unsere Vorstellungskraft, ist Nahrung für Auge und Herz. Durch unser Auge bemächtigen wir uns der Dinge außerhalb unserer selbst. Die Konventionen, die die Beziehung zwischen uns Arbeitenden respektive Besuchern und der Bibliothek festschreiben, werden aufgebrochen, Positionen auf- und abgebaut, Echos erzeugt. Unsere Haltung wird verändert. Darum: Mehr Kunst am Bau[3]! Mehr Kunst in Räumen!
[1] Vgl. Blogbeitrag Rosenthal, Laura Zöe: Die dekorative Rahmung der Türen und Fenster. https://blog.dnb.de/wissensspeicherung_10/
[2] Boris Petrovsky: Matrix ABC 52, vgl. auch https://petrovsky.de/MATRIX%20ABC%2052-51-image-matrix-abc-52-639
[3] Zur künstlerischen Ausgestaltung der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig vgl. u.a. Langer, Alfred:
Die Deutsche Bücherei in Leipzig : Architektur und künstlerischer Schmuck, Beucha : Sax-Verl., 1998.
Zur künstlerischen Ausgestaltung am Standort Frankfurt am Main vgl. Jost-Zell, Elke hier im Blog: https://blog.dnb.de/nicht-nur-buecher-kunst-am-bau-und-mehr-1/.
Yvonne Jahns
Yvonne Jahns ist Fachreferentin für Recht und Politik.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.