Der Treppenhausturm im Wandel der Zeit

5. Oktober 2023
von Rica Block

Bau- und kulturgeschichtliche Einblicke

Treppenhausturm der DNB / Foto: Rica Block

Auf ihrer Route durch die Stadt passieren Dutzende rote Doppeldecker täglich den Deutschen Platz, vorbei an der Deutschen Nationalbibliothek, vor deren Hauptfassade ein kurzer Stopp eingelegt wird. Dies geschieht sicher nicht nur, da die Bibliothek ein Wahrzeichen der Buchstadt Leipzig ist oder – viel banaler – der ruhigen Verkehrslage wegen. Nein, die Tourist*innen im Bus bekommen hier einen Moment, um innezuhalten und die reich geschmückte Front des Baus betrachten zu können. Gewiss braucht es dafür Zeit.

Gänzlich unbeachtet bei diesem wiederkehrenden Geschehen ragt auf der Rückseite des Hauptgebäudes ein stiller Beobachter und Zeuge bewegter Zeiten empor. Dass der Turm, der den Abschluss des Haupttreppenhauses der Deutschen Nationalbibliothek bildet, leicht in den Hintergrund gerät, verwundert nicht. Wenig spannend erscheint er für architekturinteressierte Tourist*innen und nur noch wenige Leipziger*innen werden sich beim Blick Richtung Turm die Geschichte dieses Zeitzeugen vergegenwärtigen können. Längst vergessen sind die Tage, an denen Bibliotheksbesucher*innen die schmale Treppe hinaufstiegen, um unter den wachsamen Augen der Mitarbeitenden im Turm die bestellte Literatur einzusehen. Wenn es auch zunächst anders scheint, so verbirgt sich eine lebhafte Bau- und Kulturgeschichte hinter dem sogenannten „Giftturm“, um die es im Folgenden gehen soll.

Als der Architekt Oskar Pusch dem geschäftsführenden Ausschuss im Dresdner Finanzministerium zu Beginn des Jahres 1914 die Entwürfe für sein Bauvorhaben vorlegte, erhielt er für die Ausführung der Rückfront zunächst eine Absage. Erst im zweiten Anlauf bekam der Uhrenturm seine endgültige Gestalt. Über dem Treppenhaus ragte schließlich ein quaderförmiger Turm auf, der nach oben hin durch eine Rotunde verjüngt wurde. Die errichtete Rotunde korrespondierte in Form und Material mit den Abschlüssen der halbrunden Türme der Hauptfassade. Wohl aus diesem Grund überragte die Turmhaube den Dachfirst des Haupthauses. Anzunehmen ist, dass der Rotunde zunächst vor allem eine ästhetische Funktion innerhalb des architektonischen Gefüges der Deutschen Bücherei zukam – errichtet aus einer schlichten Holzkonstruktion, verkleidet mit Zinkblech. Den Blickpunkt bildete die vergoldete schmiedeeiserne Uhr, die auf der schwarzen Schuppenpanzerfarbe der Rotunde besonders zur Geltung kam. Die florale Ornamentik der Uhr wurde in halbrunden Scheinfensterchen, die den Turm nach oben hin abschlossen, wieder aufgegriffen. Die zurückhaltende Erscheinung des Treppenhausturms fügte sich damit in die schlichte zeitlose Gestalt der Rückfront ein.

Rückseite der DB mit Lesesaalbau / Foto: DNB

Die Morgenstunden des 4. Dezember 1943 bedeuteten das Ende des Uhrenturms. Als die britische Royal Airforce an jenem Tag Luftangriffe auf die Stadt flog, wurden auch Teile der Deutschen Bücherei in Mitleidenschaft gezogen, darunter der große Lesesaal, Bereiche des Daches sowie der Uhrenturm. Eine in Form und Erscheinung eher zweckmäßig ausgeführte Wiederherstellung erfolgte erst im Jahr 1959. Dabei orientierte man sich keineswegs am Original, sondern entschied sich kurzerhand für einen flachen und obendrein quaderförmigen Baukörper, womit die Idee Oskar Puschs entscheidende Veränderung erfuhr. Dem von Pusch konzipierten Turmaufbau, der für eine Akzentuierung der Mittelachse der rückwärtigen Fassade sorgte, konnte der Neubau nicht gerecht werden. Auch der Bezug zu den Türmen der Hauptfassade ging damit verloren.

Richtfest für den Neuaufbau des zerstörten Turms, März 1959 / Foto: DNB, Fotoarchiv

Der Uhrenturm wird zum „Giftturm“

In seiner ernüchternden neuen Gestalt wurde der Turm zu einem Sinnbild der Zeit, das sogar Eingang in die Literatur finden sollte. Denn mit der Neugestaltung des Turms wurde auch in diesem Teil des Hauses ein Lesesaal mit zugehörigem Magazin eingerichtet. Doch war es mitnichten ein gewöhnlicher Lesesaal, der hier untergebracht war. Allein Größe und Infrastruktur hätten dies nicht zugelassen, da etwa der Zugang nur über eine schmale Wendeltreppe möglich war. Die Umstände jener Zeit erforderten die Einrichtung eines sogenannten Sperrmagazins – ein Magazin für sekretierte, also in der DDR verbotene, Literatur. So sah ein Beschluss des Politbüros schon 1949 vor, als „feindlich“ bewertete Bände in gesonderten Sperrmagazinen aufzubewahren, gleichwohl aber die Benutzung für Forschungszwecke zu ermöglichen. Diesen Forderungen konnte man mit dem Lesesaal im Turm nachkommen. Nur wer eine Genehmigung vorweisen konnte, bekam Zutritt zu den Räumen, die den allermeisten Bibliotheksbesucher*innen verschlossen blieben. Im „Giftturm“ standen zwanzig Arbeitsplätze zur Verfügung, je ein Tisch pro Besucher*in. Größten Wert legte man darauf, dass niemand auch nur die geringste Möglichkeit bekam, einen Blick auf etwas zu erhaschen, das nicht für seine Augen bestimmt war. Eine Schilderung über die Abläufe im Turm liefert der Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ des Leipziger Schriftstellers Erich Loest. Dieser beschreibt in einer Passage auf unterhaltsame Weise den Besuch seines Protagonisten Wolfgang Wülff im „Giftturm“, und offenbart damit zugleich die Absurditäten des Systems.

„Nachmittags stieg ich mit Wilfried in den Giftturm hinauf, zuletzt wanden wir uns auf einer steilen stählernen Wendeltreppe himmelwärts, wo nur für einen schlanken Menschen Platz war; die Dame Kummet hatte mit ihrer südlichen Hälfte hier bestimmt Schwierigkeiten. Oben klopfte Wilfried an eine eiserne Tür, Schlüssel rasselten, die Tür wurde geöffnet, keine junge Dame bediente hier wie hinter allen andern Schaltern der DB, sondern ein stämmiger Mann, er trat keineswegs zur Seite, sondern schaute uns wachsam an… ließ uns ein mit einer Bewegung, als wären wir verdächtige Individuen, die sich unter einem Vorwand hier einschlichen, um verbotene Frucht zu naschen.“

Noch bis 1994 wurde der Raum weiter als Lesesaal des Sondermagazins genutzt. Nach der Schließung des Lesesaals konnte dann auch die Bausünde aus den 50er Jahren, nach fast vier Jahrzehnten, beseitigt und der Ursprungszustand – in Form eines Rundbaus – wiederhergestellt werden. Ringsum mit bodentiefen Fenstern versehen, entstand ein lichtdurchfluteter Raum. Darin befand sich ab 1998 der Multimedialesesaal mit 12 PC-Arbeitsplätzen, der jedoch 2007 aufgelöst wurde. Heute wird das Turmzimmer mit dem herrlichen Ausblick auf den Leipziger Osten durch die Betriebssportgruppe der Deutschen Nationalbibliothek genutzt. Dann und wann kommen Besuchergruppen vorbei, um die versteckten Orte der Bibliothek und ihre Geschichten kennenzulernen. Wo einst „der Zerberus über geistigen Unrat und Unflat“ (Erich Loest, Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene) wachte, herrscht heute eine helle und freundliche Stimmung.

Arbeitsplätze Multimedialesesaal, 1998 / Foto: DNB, Fotoarchiv

»Nicht verleihbar«, »Beschlagnahmt«, »Verboten«, »Geheim«

Vom Lesesaal ins Geheimarchiv – Die Deutsche Bücherei und die Praxis des Sekretierens

In Zeiten von „Big Data“ wissen wir heute mehr denn je um die Bedeutung von Informationen und Inhalten. Wir sind nicht nur sensibilisiert, was ihre Verwendung angeht, sondern haben auch aus unserer Geschichte lernen können, welche Folgen das gezielte Steuern von Informationen haben kann. Die Deutschen Bücherei hat sich mit ihrer Gründung im Jahr 1912 dem umfassenden Sammeln deutschsprachigen Schriftguts verpflichtet. Mit diesem Bestreben wurde sie im Laufe ihrer Historie unfreiwillig auch zu einem Instrument totalitärer Systeme. Ihre Ressourcen und Strukturen wurden bewusst genutzt, um mithilfe der Zensur, die Verbreitung von Informationen zu lenken, und gegen vermeintliche Feinde zu agieren.

Schon 1916, während des Ersten Weltkriegs, wurde in der Deutschen Bücherei eine Militärzensurstelle eingerichtet. Denn mit Kriegsbeginn wurde die Pressefreiheit im Deutschen Reich aufgehoben und eine Militärzensur eingeführt. Infolgedessen wurde die „Buchprüfungsstelle OberOst“ in der Deutschen Bücherei installiert. Ihr oblagen Kontrolle und Genehmigung der Einfuhr von Druckwerken in die Gebiete der heutigen baltischen Staaten Litauen und Lettland sowie Polen. Im Ergebnis der Prüfungen durch die Leipziger Zensoren, unter ihnen Militärangehörige, wie der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, aber auch Mitarbeitende der Deutschen Bücherei, entstanden Listen mit Büchern und Zeitschriften, deren Inhalte als unbedenklich deklariert und damit zur Verbreitung freigegeben wurden. In der Weimarer Republik beschränkte das „Schmutz- und Schundgesetz“ den Zugang zu indizierten Schriften, womit der Verkauf dieser an unter 18-Jährige verboten war. Die Deutsche Bücherei fungierte in dieser Zeit als Oberprüfstelle.

Opfer und Komplize gleichermaßen?

Dementsprechend kam der Deutschen Bücherei auch eine wesentliche Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus zu, wobei die Verantwortlichen im Haus eine erstaunliche Eigeninitiative an den Tag legten. Überraschend ist dabei vor allem, mit welchem Tempo die zuständigen Personen schon bald nach Machtübernahme am 30. Januar 1933 zur Tat schritten. Noch bevor offizielle Erlasse ergingen, entfernte man ohne zu zögern „kommunistische und religionsfeindliche“ Bände aus den Handapparaten des Großen Lesesaals sowie Zeitschriften im Zeitschriftenlesesaal. Mit diesem Vorgehen galt die Deutsche Bücherei als eine der ersten wissenschaftlichen Bibliotheken, die bereitwillig Titel sekretierte. Die als unerwünscht geltenden Schriften wurden systematisch in vier Kategorien gruppiert. Darunter fielen die Bereiche „Erotica“, „Politische Schriften“, „Vereins- und Firmenschriften“ und „Bühnenmanuskripte“. Zusätzlich brandmarkte eine farbliche Markierung, in Form eines „roten Tupfens“ mit dem Aufdruck „Geh.“, die nun verfemten Schriften. Für die Mitarbeitenden hatte eine solche Markierung wohl in erster Linie praktische Gründe, sogleich ist darin jedoch ein starkes Kennzeichen von Ausgrenzung und konstruierter Andersartigkeit zu lesen. Ergänzend dazu gab ein Indizierungsvermerk nähere Auskunft über den Status der Schriften, die im Katalog als „Nicht verleihbar“, „Beschlagnahmt“, „Verboten“ oder „Geheim“ ausgewiesen werden konnten.

Auch die Zugangsmöglichkeiten wurden stark eingeschränkt. In der Leipziger Bibliothek war die Ausleihe zensierter Schriften fortan nur noch aus wissenschaftlichen Gründen möglich und bedurfte zusätzlich der Genehmigung des zuständigen Archivleiters. Verbindliche Regelungen erließ das Reichserziehungsministerium in den Jahren 1934/35, womit das Anlegen gesonderter Verzeichnisse sowie der Verschluss der Schriften im „Giftschrank“ obligatorisch wurden. Da die Menge der aussortierten Bücher bereits 1933 erhebliche Ressourcen beanspruchte, beschreibt die Formulierung „Giftschrank“ das Ausmaß der Sache allerdings nicht treffend, sondern erweist sich eher als verharmlosend.

Zynisch (im Rückblick aber auch als ein Glücksfall) erscheint, dass das Sekretieren missliebiger Bände nie zulasten des eigenen Sammlungsauftrages der Deutschen Bücherei ging. Bibliografiert und gesammelt wurde aufgrund des Vollständigkeitsprinzips weiterhin. Zudem muss konstatiert werden, dass die Deutsche Bücherei zur Nutznießerin der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten wurde, da sie direkt von deren Beschlagnahmeaktionen profitierte. Zu den heutigen Forschungsbereichen der Deutschen Nationalbibliothek zählt die Aufklärung dieses historischen Unrechts und die damit verbundene Restitution an rechtmäßige Eigentümer*innen.

„Westliteratur im Giftschrank“

Dennoch erwies sich auch die Folgezeit nicht als Ära des „freien Wortes“, wie es eine der vergoldeten Inschriften über dem Portal der Deutschen Bücherei garantiert. Schon ab 1949 galt auf Anordnung des Politbüros der DDR für die nunmehr als „feindlich“ eingestufte Literatur die Unterbringung in einem gesonderten Sperrmagazin. Erneut, wie schon in den Jahren der NS-Diktatur, wurde der Zugang zu den sekretierten Schriften an eine wissenschaftliche Notwendigkeit geknüpft. Die Einsichtnahme der Literatur war nur in einem separaten Lesesaal, dem „Giftturm“, möglich, womit eine weitere Kontrollinstanz eingeführt wurde. Ausnahmen galten allerdings für Angehörige staatlicher Institutionen.

Der „Giftturm“ der Deutschen Bücherei / Foto: DNB, Fotoarchiv

Der Versuch, dieses System zu verschleiern, gelang jedoch nicht. Ein Artikel der Deutschen Zeitung mit Wirtschaftszeitung, der im Dezember 1961 in der BRD veröffentlicht wurde, berichtet unverblümt, wie in der Bibliothek mit unbequemer Westliteratur verfahren wurde. So seien laut dem Autor zwar alle Bücher vorhanden, diese würden aber „in den sogenannten ‘Giftschränken‚ unter Verschluss gehalten.“ Im Zeitschriftenlesesaal habe der Verfasser „keine einzige Publikation aus dem freien Westen“ vorfinden können. Dass derlei Veröffentlichungen nicht im Sinne der Zensor*innen und politischen Verantwortlichen waren, zeigen die Reaktionen der Deutschen Bücherei und vor allem der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, die sich medial mit weitaus lauteren Vorwürfen konfrontiert sah. Ein erster Schritt war die Umbenennung des „Sperrmagazins“ in „Magazin für Spezielle Forschungsliteratur“, wovon man sich wohl erhoffte, den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu erwecken. Ferner bemühte man sich, die Zugangsvoraussetzungen, zu erleichtern, wenn auch nur in geringem Umfang. Und so behielt man die Praxis des Sekretierens in der Deutschen Bücherei noch bis zum Ende der DDR bei.

Artikel „Leipzig, die genormte Buchstadt der Zone“, Deutsche Zeitung mit Wirtschaftszeitung vom 04.12.1961 / Foto: Rica Block

Rica Block ist Masterstudentin im Studiengang Kunstgeschichte, sie lebt und arbeitet in Leipzig. 

Im Kontext seiner Kooperation mit der Wissenschaft hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum im Wintersemester 2022/23 einen Lehrauftrag an der Universität Leipzig durchgeführt, das sich unter dem Aspekt der Gestaltung, Funktionen und Ästhetiken des Speicherns mit der spannenden 111-jährigen Geschichte der DNB beschäftigt. Es ist eine in der Strategie der DNB fest verankerte Lehrkooperation, deren Ergebnisse zugleich Auskunft geben über 111 Jahre Bibliotheksgeschichte.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Rica Block

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  • ISSN 2751-3238