Sammlung in besetzten Gebieten
Rund 5.000 Text- und Bildplakate aus der Zeit von 1933 bis 1945 zeugen heute im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek von nationalsozialistischer Propaganda und den Strukturen deutscher Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, vgl. Plakatsammlung Zweiter Weltkrieg. Diese Drucke sind das Relikt einer Kriegssammlung, die das Leipziger Haus 1939 ins Leben rief. So wie die Sondersammlung zum Ersten Weltkrieg nach Kriegsausbruch 1914 gestartet wurde, um das mit dem Krieg verbundene Geschehen für die Nachwelt zu überliefern, wollte die Bibliothek an diese Tradition anknüpfen und fasste im September 1939 den Beschluss, sämtliche Druckschriften zum Kriegsgeschehen zu bewahren.
Doch wie wurde diese Sammlung mitten im Krieg organisiert?
Rekonstruktion der Sondersammlung
Eine Rekonstruktion der Sondersammlung zum Zweiten Weltkrieg erlauben uns die Archivalien zur Geschichte der Deutschen Bücherei und vor allem der Bestand selbst. Vieles zum ursprünglichen Umfang und zur Arbeitsmethodik lässt sich jedoch heute nur mutmaßen.
Die Tatsache, dass die Bibliothek, vormals: Deutsche Bücherei (DB) ab 1933 dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) unterstand, war für die Durchsetzung der Ablieferung von Schriften seitens amtlicher Stellen die entscheidende Grundlage. Die Bibliothek entwickelte sich zu einem literaturpolitischen Dienstleister für den nationalsozialistischen Staat, Verzeichnung und Beschlagnahme unerwünschter Publikationen inbegriffen.
Werbung und Erwerbung
Grundlage der Ablieferungspflicht und Bezugspunkt für den Aufbau der Kriegssammlung 1939 war einerseits die Anordnung vom 11. April 1927 über die Abgabe amtlicher Druckschriften des Reichs an die öffentlichen Büchereien der Länder (Reichsministerialblatt 1927, Nr. 17 vom 16.04.1927) und andererseits die Anordnung der Reichskulturkammer vom 20. September 1935, die die Ablieferung von Druckschriften innerhalb der Reichsgrenzen an die DB und die lückenlose Erfassung des Schrifttums bezweckte (publiziert im Völkischen Beobachter vom 27.09.1935, Nr. 270).
Anfang September 1939 wurde „für den Polenfeldzug sowie die Kämpfe an der Westfront und an der Nordsee eine besondere Sammlung angelegt“, s. abgebildetes Informationsblatt.
Durch viele Pressemitteilungen wurde auf diese Sondersammlung aufmerksam gemacht und um Einsendung von Kriegsschriften gebeten. Werbebriefe gingen an Vereine, Verbände, Stadtverwaltungen, Unternehmen und insbesondere den Buchhandel.
Die Sammlung wurde außerdem unterstützt durch die Satzung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, wonach auch die außerhalb des Deutschen Reiches lebenden Buchhändler zur Abgabe deutscher Publikationen aufgerufen waren.
Aufgrund der Unterstellung unter das RMVP erging direkte Anordnung an zahlreiche Dienststellen, wie etwa die Reichspropagandaämter, Druckexemplare nach Leipzig zu senden. Weiter verlangte der Reichsverband der deutschen Presse die Zusendung von seinen Landesverbänden, das Zentralbüro der Deutschen Arbeitsfront (DAF) von den Gaupressewaltern, das Hauptamt des Reichsführers SS von den Oberabschnitten, die Abteilung Volksaufklärung und Propaganda des Amtes des Generalgouverneurs von den Distriktchefs. Die DB bat außerdem um Mitarbeit der NSDAP und der dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unterstellten Einheiten sowie des Oberverwaltungschefs für die Zivilverwaltung der besetzten polnischen Gebiete.
Eine ähnliche Bitte erging im November 1939 an die Reichsparteileitung in München, wobei hier auch explizit um Anweisung der Dienststellen, NSDAP-Gliederungen und angeschlossenen Verbände in den besetzten Gebieten gebeten wurde (Schriftverkehr des Generaldirektors Uhlendahl in den Archivalia, ADNBL 527/6/0).
Die Bibliothek wies dabei meist auch auf die Tatsache hin, dass eine weitere deutsche Bibliothek, nämlich die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin, eine ähnliche Kriegssammlung führte.
Nach der Veröffentlichung des Aufrufs, gingen zuerst Frontzeitungen vom Heeresarchiv in Potsdam in Leipzig ein. Weiterhin brachten Bibliotheksmitarbeiter, die selbst an der Front waren, Material ins Haus oder baten Freunde um Abgabe. Auch aus der Nutzerschaft kamen Sendungen. Die Leipziger Bevölkerung wurde durch eine Ausstellung über die Sammlung informiert.
Der Sammlungsaufbau muss im engen Zusammenhang mit der Sammlung von Druckschriften im Pflichtexemplarbereich insgesamt betrachtet werden. Hier wurde von der Erwerbung der Bibliothek besonderes Augenmerk auf die Beschaffung von Publikationen aus den besetzen Gebieten und deutschsprachigen Auslandsschriften gelegt.
Zunächst erstreckte sich die Arbeit auf Norwegen und nach Ende des Westfeldzugs auf die Niederlande, Belgien, Frankreich usw. Dabei wurde auch auf die neue Kriegssammlung hingewiesen bzw. es gingen Druckschriften ein, die dieser zugeordnet wurden. Keinerlei Erwerbungskontakte bestanden zu dieser Zeit mehr mit Großbritannien. Um die Erwerbung trotz kriegsbedingter Schwierigkeiten voranzubringen, setzte man auf aktive Beschaffungsmaßnahmen. So wurde der damalige Erwerbungsleiter, Albert Paust, in die besetzten Westgebiete geschickt, um dort mit den Reichspropagandaämtern, den Propagandastaffeln der Wehrmacht sowie den Stellen der Staatspolizei, des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) und der NSDAP vor Ort Schriften sicherzustellen. (Ähnliche Erwerbungsreisen waren bereits im Frühjahr 1939 in die Ostmark und in das Protektorat Böhmen und Mähren erfolgt, dort jedoch – zeitlich begründet – noch ohne Bezug auf eine Kriegssammlung. Paust war außerdem 1938/39 als Leiter der Bücherverwertungsstelle in Wien mit der Beschlagnahme von Büchern aus jüdischen Haushalten, Verlagen und Buchhandlungen befasst, vgl. Beschlagnahmt und zurückgegeben – blog.dnb.de) Im Einvernehmen mit dem RMVP fuhr Paust im Februar/März 1941 nach Amsterdam, Leiden, Den Haag, Antwerpen, Brüssel, Paris, Straßburg, Colmar, Metz und Luxemburg. Er besuchte dort neben den genannten Institutionen auch Verleger, große Bibliotheken und Archive sowie auch das Amt Rosenberg, um beschlagnahmte Literatur sicherzustellen. Dabei wurde das Material direkt mitgenommen oder anhand von Listen später zusammengestellt und übersandt. Die Reise verfolgte auch den Zweck, Material für die Kriegssammlung zu erfassen. Die Dienststellen der Wehrmacht, der deutschen Zivilverwaltung, des Auswärtigen Amtes und die für die Truppenbetreuung zuständigen Stellen des Propagandaministeriums (Theater, Film, Vorträge) und die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und ihre Unterorganisationen sagten Lieferungen dafür zu.
Die heutigen Bestände, die in großer Zahl aus Belgien vorliegen, zeigen, dass die Kriegssammlung aufgrund der persönlichen Ansprache von diesen Stellen unterstützt wurde. Darüber hinaus konnte Material aus Restbeständen der Dienststellen sowie aus Archiven, z.B. aus dem Landesarchiv Straßburg zum Westfeldzug übernommen werden.
Im Osten stand die Beschaffung der Veröffentlichungen aus dem Generalgouvernement und aus dem Protektorat Böhmen und Mähren an. Auch diese Gebiete wurden in den Sammelbereich der DB einbezogen, einschl. polnischer bzw. tschechischer Werke. Für das Reichsprotektorat wurde am 11. April 1940 eine Verordnung der Protektoratsregierung über die Pflichtexemplarabgabe erlassen (Als Ergänzung zum tschechischen Pflichtexemplargesetz von 1935). Hieraus ergaben sich auch organisatorische Veränderungen der Erwerbungsabteilung an der DB, um mit den fremdsprachigen Materialien umgehen zu können. (So wurde beispielsweise eine wissenschaftliche Hilfskraft mit Tschechisch-Kenntnissen extra eingestellt.)
Für die österreichischen Gebiete, die 1938 dem Deutschen Reich angeschlossen wurden, erfolgte die Sammlung von Plakaten, Proklamationen, Spruchbändern und anderen Blättern aus den Gauen der „Ostmark“ rückwirkend bis 1932/33.
Insgesamt eingegangen für die Kriegssammlung waren nun Bildplakate, Anschläge von Erlassen und Bekanntmachungen, Programme, Flugblätter und Zeitungen einschließlich Sondernummern und Beilagen, Feldpostbriefe und Heimatgrüße. Separiert wurden nur Einblattdrucke. Zeitungen und Zeitschriftenbestände der Sondersammlung sind in den „normalen“ Bestand der DB eingegliedert worden. Bis Ende März 1940 sind insgesamt 3.600 Eingänge nachweisbar. Für spätere Kriegsjahre liegen keine Zugangs-Zahlen mehr vor.
Ausstellung 1939
Werbung für die Sondersammlung wurde im Dezember 1939 auch durch eine Ausstellung erster Kriegsschriften gemacht. Ausstellungen waren und sind ein wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Bibliothek. Von den 28 in der NS-Zeit gezeigten Ausstellungen widmeten sich die meisten Persönlichkeiten aus Kunst und Literatur, wie z.B. Arno Holz oder Josef Ponten oder fanden anlässlich von Jubiläen und Großveranstaltungen statt, etwa zu Martin Luther. Neben der Hindenburg-Ausstellung 1934 fanden auch mehrere der Propaganda dienende Ausstellungen statt. So wurde 1938 mit Bezug auf die Sudetenkrise eine Ausstellung zu sudetendeutschen Dichtern gezeigt. Im Dezember 1939 fand die Ausstellung „Kriegssammlung 1914/1939“ statt. Die Öffentlichkeit sollte einen Eindruck von der Kriegsschriftensammlung, aber auch vom Kriegsgeschehen selbst erhalten. Gezeigt wurden neben Plakaten und Anschlägen beider Weltkriege vor allem Zeitungen, wie Ausgaben von „Sudetenfront“ oder der „Feldzeitung des XIII. Armeekorps“. Daneben sah man aktuelle Ausgaben von „Der Soldat im Ordensland Preußen“ oder die „Soldatenzeitung für den Militärbezirk Lodz“. Als Beispiel einer Druckschrift aus den besetzten Gebieten wurde die „Gazeta Łódzka“ benannt.
Der anlässlich der Ausstellung erschienene Aufsatz Pausts „Die Kriegssammlungen der Deutschen Bücherei 1914 und 1939“ wurde später zur Werbung für die Kriegssammlung als Sonderdruck in Umlauf gebracht, auch an der Westfront.
Personalsituation und Organisation der Bibliothek
Wie schon während des Ersten Weltkriegs sammelte die Bücherei in einer Notzeit. So waren erhebliche Personalschwierigkeiten zu vermelden, weil durch Einberufung zum Wehrdienst, aber auch durch Todesfälle an der Front Arbeitskräfte ausfielen (vgl. Jahresbericht 1940/41). Die Beheizung der Bibliotheksräume war mangelhaft, Luftschutzräume mussten eingerichtet und Verdunkelungsmaßnahmen durchgeführt werden. Immer wieder kam es zur Schließung der Bibliothek für die Benutzung.
Die Bewirtschaftung von Papier bedeutete, dass die Bibliothek sich beim Sammlungsaufbau auf die Suche nach Lücken im Buchbestand konzentrieren musste, da die Makulierung an vielen Stellen die Ablieferung zu beeinträchtigen drohte. Der Aufbau der Kriegssammlung wurde somit im Rahmen des Machbaren betrieben. Organisatorisch gesehen, zeichnete die Dienststelle für amtliche Schriften unter Leitung von Herrn Dr. Ruppert verantwortlich. Eine Hauptaufgabe dieser Dienststelle war die aufwändige Sammlung der Verordnungsblätter der besetzten Gebiete (Vgl. Monatliches Verzeichnis der reichsdeutschen amtlichen Druckschriften, ADNBL 181/1-1940, Bl. 35.). Feldpostbriefe und Heimatgrüße wurden neben den anderen Periodica in der Zeitschriftenabteilung bearbeitet.
Im Gegensatz zur Weltkriegssammlung von 1914 kam keine Katalogisierung des Materials zustande. Auch erfolgte keinerlei Kennzeichnung der Eingänge durch Akzessionsnummern oder Eingangsdaten oder Stempel, wodurch heutige Bestände nicht mehr eindeutig der Sondersammlung zugeordnet werden können. Auf eine Eintragung in die allgemeinen Zugangsbücher wurde verzichtet. Die Materialien wurden provisorisch in Mappen und Kapseln aufbewahrt. Dabei wurden die verschiedenen Medienarten offenbar nicht oder jedenfalls nicht über längere Zeit zusammenhängend gelagert. Plakate und Anschläge bildeten wahrscheinlich ein zusammenhängendes Konvolut.
Im weiteren Kriegsverlauf ließ die aktive Einwerbung des Materials nach. Die DB hatte 1939 – im Gegensatz zur Sammlung von 1914, die sie zugleich nutzte, um auf sich selbst als neue Institution aufmerksam zu machen – gedacht, dass ein ähnlicher Werbefeldzug unnötig sei. Der Geist des Sammelns war jedoch 1939–1945 ein ganz anderer als 1914–1918, einer Zeit, in der das Sammeln von vaterländischer Pflichterfüllung durchdrungen war und die berühmten „Trommelfeuer von Papier“ den ersten Medienkrieg begleiteten. Zugleich wähnte man sich ab 1939 viel stärker eingebettet in ein bürokratisches Netz von Ablieferern. Diese Zusammenarbeit mit amtlichen Stellen, die 1939/40 gut anlief, war nicht durchgehend erfolgreich. Mit militärischen Stellen lief sie offensichtlich von Anfang an schleppend, da sich die Wehrmacht bzw. auch die um Einsendung gebetenen Propagandakompanien oft auf ein Verbot des OKW zur Herausgabe von Material an außermilitärische Stellen beriefen, so z.B. im Falle der Übersendung der Frontzeitung „Westwall-Bote“. Die DB bot Verschluss und Geheimhaltung an. Eine ab 1940 bestehende Ausnahme für Bibliotheken und Archive war offensichtlich in der Realität kaum durchsetzbar (Vgl. hierzu Schriftwechsel DB-RMVP-OKW-einzelne Propagandakompagnien. von 1939/40, ADNBL 527/6/0, Bl. 15ff.).
Verglichen mit den ca. 58.000 Dokumenten der Kriegssammlung von 1914 (ohne Bücher und Broschüren), von denen heute noch ein großer Teil im Bestand sind: https://d-nb.info/1032940727, bleiben die heutigen ca. 5.400 Blätter aus der Sammlung 1939 ein Rumpf: https://d-nb.info/118043062X. So kann die Kriegssammlung – ähnlich wie die Sammlung 1939–45 der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin mit ebenfalls 5.000 Exemplaren – als Fragment bezeichnet werden.
Kriegsverluste waren lediglich im Zeitschriftenbereich zu verzeichnen. Leipzig als strategisch wichtiger Ort war Angriffsziel der Alliierten und erfuhr 1943 schwere Luftangriffe. Angesichts der bekannten Kriegsverluste anderer großer Bibliotheken versuchte die DB ihre Bestände rechtzeitig zu sichern, darunter auch die beiden Kriegssammlungen, und verbrachte diese in Kellerräume bzw. später an externe Orte in Sachsen und Thüringen.
Größere Verluste dürften in der Kriegssammlung jedoch durch Entnahmen und Besitzerwechsel nach 1945 entstanden sein. Zugleich wurden aber auch nachträglich Blätter hinzugefügt.
Betrachtet man die heute vorhandenen Blätter, so ergibt sich eine ungleichmäßige Verteilung über Themen, Institutionen und geografische Räume. Ein repräsentativer Bestand liegt aus Belgien, dem Protektorat Böhmen und Mähren und Österreich (Ostmark) vor. Der dichteste Bestand kommt aus dem Generalgouvernement. Dagegen finden sich nur vereinzelt Blätter aus den eingegliederten Gebieten wie Danzig-Westpreußen oder dem Reichsgau Wartheland.
Die Blätter aus dem Generalgouvernement
Fast die Hälfte der Kriegssammlung machen Lieferungen aus dem Generalgouvernement aus, die die unmenschlichen Mechanismen der nationalsozialistischen Besatzungspolitik aufzeigen.
Der von der Wehrmacht im September 1939 besetzte Teil Polens wurde zunächst unter Militärverwaltung gestellt. Am 26. Oktober wurde dann das Generalgouvernement gebildet. Hitlers Ziel war dabei, die militärischen und wirtschaftlichen Belange einer rigorosen Volkstumspolitik unterzuordnen. Es entstand hier ein Experimentierfeld für eine künftige „germanische“ Gesellschaftsordnung. Man entschloss sich, eine nahezu rein deutsche Verwaltung aufzubauen, begleitet von der Entlassung polnischer Beamter. An der Spitze stand Generalgouverneur Hans Frank, der in Krakau residierte. Warschau war als Ort des polnischen Widerstands zur Distriktshauptstadt degradiert worden.
Für das Generalgouvernement waren die Zielsetzungen der NS-Besatzungspolitik durch „ein Maß an innerer Konsequenz und Geschlossenheit gekennzeichnet, wie das in keinem anderen von Deutschland besetzten Land während des Zweiten Weltkriegs zutrifft“ (Musial 2011, S. 461). Die Grundsätze der Verwaltungsorganisation waren in Anlehnung an das Reich konzipiert. Hierarchisch gliederte sich der Verwaltungsaufbau in eine Zentralbehörde – die Regierung in Krakau – und fünf Distrikte: Warschau, Krakau, Radom, Lublin und Galizien (ab 1941) mit über 50 Landkreisen und sieben Stadtkreisen. Das Generalgouvernement war nicht ins Deutsche Reich eingegliedert, hatte aber auch keine eigene Gesetzgebungskompetenz. Jedoch war der Gouverneur ermächtigt, Recht durch Verordnungen zu setzen. Alle von Generalgouverneur Frank erlassenen Verordnungen wurden im Verordnungsblatt für das Generalgouvernement publiziert. Alle amtlich vorgeschriebenen Bekanntmachungen waren zweisprachig in der Krakauer Zeitung zu veröffentlichen. Alle Anordnungen usw. auf lokaler Ebene wurden über Plakate bekannt gemacht, in der Regel auch zweisprachig, deutsch und polnisch. Die im Januar 1940 errichtete Abteilung für Gesetzgebung im Amt des Generalgouverneurs verlautbarte bereits 1940 etwa 480 Verordnungen, Durchführungsvorschriften und Anordnungen.
In der Sammlung sind mehrheitlich Verlautbarungen der mittleren und unteren Verwaltungsebenen enthalten, d.h. der Distriktsgouverneure und der Kreis- und Stadthauptleute. Es handelt sich um Bekanntmachungen, Anordnungen, Aufrufe usw., die diese in Vollzug von Anweisungen der Zentral- bzw. Distriktsverwaltung zum Aushang brachten und so auch die Herrschaft über den öffentlichen Raum deutlich demonstrieren. Es galt, die deutsche Herrschaft zu festigen, Respekt und Ordnung zu sichern, mitunter bis zur Entscheidung über Leben und Tod, wie Plakate mit den Namen festgenommener oder verurteilter Polen belegen. Straftaten Deutscher wurden hingegen nicht publiziert, um die Autorität des Regimes nicht zu untergraben. Die Germanisierung der polnischen Gebiete ging einher mit einer Abwertung alles Polnischen, von der Umbenennung von Straßen bis hin zum Erlass von Verkaufsverboten an Polen usw. Nüchterne Maueranschläge weisen die Kennzeichnungspflicht jüdischer Einwohner und die Einrichtung von Gettos an. Weiterhin finden sich Bekanntmachungen von Dienststellen wie z.B. Arbeitsämtern. Darüber hinaus berichteten Plakate der Hauptabteilung Propaganda über Ereignisse im Generalgouvernement, über den Kriegsverlauf oder kündigen Theater- oder Sportveranstaltungen an.
Die überwiegende Zahl der Blätter stammt aus den Jahren 1940–1943. Es wird vermutet, dass viele erst rückwirkend über das Archiv des Generalgouvernements in Krakau in die DB kamen. Dafür spricht auch der entsprechende Stempel auf vielen Plakaten. Die relativ kontinuierliche Lieferung bricht im Sommer 1943 ab, bedingt durch das Vorrücken der Roten Armee an der Ostfront. Einige Druckschriften kamen noch vom Dezember 1944 aus den Stadthauptmannschaften Lublin und Krakau. Der Bestand zeigt exemplarisch die Maximen der NS-Besatzungspolitik. Als vielfach einziges Kommunikationsmedium zwischen Besatzern und der Bevölkerung vor Ort machen die Proklamationen nicht nur die Ideologie der NS-Herrschaft deutlich, sondern vermitteln auch das bedrückende Alltagsgeschehen in den polnischen Gebieten in dieser Zeit, vgl. dazu die Ausstellung „Besetzter Raum“:
Überlieferung nach 1945
Die schwierige Rekonstruktion der Kriegssammlung hängt nicht zuletzt mit den späteren Irrwegen der Bestände zusammen. So kam es nach Kriegsende zu Eingriffen durch die Sowjetische Militäradministration (SMAD), die sich 1945/46 für die DB-Bestände der und insbesondere auch der Kriegssammlungen interessierte. Die Trophäenkommission der Roten Armee beschlagnahmte im Auftrag der SMAD Bibliotheksbestände (s. dazu auch Begehrte Trophäen – blog.dnb.de), dabei auch solche Werke, die auf dem sowjetischen Territorium in der Besatzungszeit herausgegeben wurden. Soweit bekannt ist, wurden den Vertretern der Roten Armee in diesem Zusammenhang neben vier Kisten mit Büchern auch 126 Dubletten an Kriegsplakaten übergeben und in die Sowjetunion verbracht, im August 1946 waren es aufgrund eines SMAD-Befehls nochmals 80 Plakate und 25 Flugblätter, die auf sowjetischem Gebiet erschienen waren. Weitere kriegsbezogene Blätter waren auf Anordnung des Volksbildungsministeriums der DDR im Frühjahr 1950 nach Berlin abzugeben.Ihr Verbleib blieb unklar, vermutlich kamen sie ebenfalls in die Sowjetunion.
Schließlich verließen im Oktober 1961 viele der Weltkriegsplakate die Deutsche Bücherei im Rahmen einer Abgabe von insgesamt etwa 33.000 Blättern aus den verschiedenen Plakatsammlungen an das Georgi-Dimitroff-Museum in Leipzig. Von dort aus wurde das Material an Museen der DDR entsprechend ihrer Aufgabenstellung weiterverteilt. Über diese verschlungenen Wege und die Verteilung an das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin (1962), das Armeemuseum in Potsdam, das Militärmuseum in Dresden (1985) oder das Stadtgeschichtliche Museum in Leipzig sowie die Rückkehr der Blätter wurde bereits an anderer Stelle berichtet: https://blog.dnb.de/kriegssammlungen.
Auch wenn sich die Forschung in den letzten Jahren intensiv mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs beschäftigt hat, bleibt diese Epoche doch für unser nationales Selbstverständnis und die gegenseitige Wahrnehmung Deutschlands und seiner Nachbarn bedeutend. Bevölkerungspolitik der NS-Verwaltung, die Ausgrenzung polnischer Juden, aber auch der Alltag in Kriegszeiten werden sowohl durch die farbigen, auf suggestive Wirkung bedachten Propagandaplakate als auch die nüchternen Aushänge und Anschläge anschaulich. Eine vollständige Aufarbeitung der Kriegssammlung, umfassende Erschließung und Digitalisierung der Plakate sowie eine Verknüpfung zu Beständen in polnischen Institutionen, etwa in Warschau, wäre für die historische Forschung ein Gewinn.
Yvonne Jahns
Yvonne Jahns ist wissenschaftliche Bibliothekarin und Fachreferentin für Recht und Politik in der Inhaltserschließung der Deutschen Nationalbibliothek.
Literatur:
Flachowsky, Sören: „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“ : die Deutsche Bücherei in Leipzig 1912–1945. Göttingen: Wallstein, 2018.
Lehmann, Klaus Dieter; Kolasa, Ingo (Hrsg.): Die Trophäenkommissionen der Roten Armee : eine Dokumentensammlung zur Verschleppung von Büchern aus deutschen Bibliotheken. Frankfurt am Main: Klostermann, 1996.
Musial, Bogdan: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement : eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944. Wiesbaden: Harrassowitz, 2011.
Paust, Albert: Die Kriegssammlungen der Deutschen Bücherei 1914 und 1939. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 107, Nr. 86 vom 13.04.1940. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:101:1-2014011612693
Schochow, Werner: Griff in die Geschichte der Staatsbibliothek : die drei Kriegssammlungen (1870/71 bis 1939). In: Mitteilungen SBB (PK) – N.F. 5.1996, S. 64–67.