Frag nach! wieder auf Tour
Die Ausstellung „Frag nach!“
Noch bis August 2026 ist im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt die Ausstellung „Frag nach! Digitale interaktive Interviews mit Inge Auerbacher und Kurt S. Maier“ des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 zu sehen. Inge Auerbacher (geboren 1934) und Kurt S. Maier (geboren 1930) haben beide als Kinder antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten erlebt. Beide nahmen mit ihren Familien die Herausforderung an, sich im Exilland USA ein neues Leben aufzubauen.
Herzstück der Ausstellung sind die digitalen interaktiven Interviews mit den beiden. Das Besondere an diesem Format: Man kann Fragen an die digitalen Zeitzeugnisse richten und erhält Antworten. Es entsteht eine Frage-Antwort-Interaktion, die ein Gespräch simuliert. Möglich ist das durch Künstliche Intelligenz. Ein natural language processing system erkennt die Fragen und spielt die passenden Antworten aus einer Datenbank aus. In dieser Datenbank liegen je rund 900 Antworten von Kurt S. Maier und Inge Auerbacher, die sie in zwei umfangreichen Interviews 2021 und 2022 gegeben haben.
Seit Eröffnung der Ausstellung „Frag nach!“ hat das Projektteam mehrere Hundert Menschen in Gruppen durch die Ausstellung und in Workshops begleitet. Daneben waren bereits zahlreiche Individualbesucher*innen zu Gast. (Regelmäßig finden begleitete Rundgänge statt. Es lohnt sich ein Blick in den Veranstaltungskalender des Exilarchivs.)
Unterwegs mit dem interaktiven Interview der Zeitzeugin Inge Auerbacher
Auch außerhalb der Ausstellungsräume haben schon über Tausend Menschen, insbesondere Jugendliche, die digitalen interaktiven Interviews kennengelernt. Im Frühjahr 2023 war das Exilarchiv bereits mit dem digitalen interaktiven Interview von Kurt S. Maier auf Tour, um das Angebot überregional bekannt zu machen. Auch mit dem digitalen Zeitzeugnis von Inge Auerbacher ist das Exilarchiv mit einem inzwischen neu aufgestellten „Frag nach!“-Vermittlungsteam seit Januar 2024 außerhalb Frankfurts unterwegs. Vor allem in Schulen stellen wir das Projekt vor und erschließen mit Schüler*innen die Biographie Inge Auerbachers in ihrem historischen Kontext. Daraus ergeben sich Fragen, die die Schüler*innen den digitalen Interviews stellen können. Auch der (quellen)kritische Blick auf das digitale Format interaktives Interview kommt dabei nicht zu kurz.
Mit ihren Fragen helfen die Schüler*innen (genauso wie die Besucher*innen der Ausstellung) dabei, das digitale interaktive Interview von Inge Auerbacher zu trainieren. Denn bis die aufgezeichneten Interviews zu interaktiven Interviews werden, durchlaufen sie einen aufwändigen Postproduktionsprozess. Die KI muss erst lernen, Fragen und Antworten richtig zuzuordnen. An unseren bisherigen Stationen in Limburg, Lahr, Offenburg, Breisach, Birkenfeld, Trier, Nieder-Olm, Hainburg, Gerolstein, Bad Ems und in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig kamen so viele Fragen zusammen, dass das interaktive Interview bereits merklich verbessert werden konnte.
Gemeinsam mit Karen Jungblut, die bei der USC Shoah Foundation das Programm Dimensions in Testimony leitete und mit der das Exilarchiv bis heute in der Postproduktion der Interviews eng zusammenarbeitet, war das Exilarchiv im Oktober 2023 drei Tage lang bei einer Veranstaltung des Bistums Limburg zu Gast. Rund 450 Schüler*innen hatten dort Gelegenheit zu Begegnungen und Gesprächen mit tatsächlich anwesenden Überlebenden des Holocaust, einige von ihnen auch mit den interaktiven Zeitzeugnissen von Inge Auerbacher und Kurt S. Maier.
In Lahr konnte das Vermittlungsteam die Vorab-Version des interaktiven Interviews von Inge Auerbacher nach einem frageintensiven Vormittag mit diskussionsfreudigen Schüler*innen des Max-Planck-Gymnasiums bei einer Abendveranstaltung mit dem Förderverein ehemalige Synagoge Kippenheim e.V. vorstellen. Florian Hellberg, Lehrer am Max-Planck-Gymnasium, hatte die Veranstaltung gemeinsam mit dem Förderverein organisiert. Einige der Anwesenden hatten Inge Auerbacher bereits im persönlichen Gespräch erlebt und waren mit ihrer Biographie vertraut. Entsprechend stellten sie an ihr interaktives Interview besonders detaillierte und auch ortsbezogene Fragen:
„Haben Sie als Kind in Kippenheim auch Freundinnen an anderen Orten gehabt?“
„Hast du die Kippenheimer Synagoge besucht?“
„Welche Orte sind dir wichtig in Kippenheim?“
Am nächsten Tag lernten Schüler*innen einer 8. Klasse der Hugo-Löffler-Realschule im Blauen Haus in Breisach die Lebensgeschichte Inge Auerbachers und ihr digitales Zeitzeugnis kennen. Die Schüler*innen waren zunächst überrascht, dass der Geburtsort der Zeitzeugin in unmittelbarer Nähe zu ihrem Lebensmittelpunkt lag. Bei ihnen standen Fragen im Vordergrund, die unabhängig vom Ort und der jeweiligen Gruppe in der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte Inge Auerbachers immer wieder auftauchten.
Das sind Fragen nach zentralen Ereignissen in Inge Auerbachers Leben: die Reichspogromnacht im November 1938, die Deportation in das Ghetto Theresienstadt und das Leben dort, der Neuanfang in den USA. Inge Auerbacher erzählt dann in ihren Antworten davon, wie es war, als in der Reichspogromnacht das Haus der Familie angegriffen wurde. Wie es war, nicht zu wissen, ob ihr Vater und Großvater aus dem Konzentrationslager Dachau zurückkehren würden, in das sie kurz vor der Reichspogromnacht verschleppt worden waren. Sie erzählt, wie es war, deportiert zu werden, ohne zu wissen wohin. Wie der Alltag in Theresienstadt aussah, vom Schmutz, der Angst, dem Verlust ihrer Freundin Ruth und immer wieder vom Hunger. Sie erzählt auch von der Rückkehr nach Deutschland nach der Befreiung des Ghettos durch die Rote Armee im Mai 1945: Wie es war, vom Tod von Freunden und Verwandten zu erfahren und mit der Gleichgültigkeit jener umzugehen, die sich während der Abwesenheit der Familie ihren Besitz angeeignet hatten oder sich wunderten, dass sie noch lebten. Und sie spricht über den schweren Neuanfang in den USA, ihre lange Krankheit (eine Folge der Lagerhaft), aber auch über ihre Genesung, ein erfolgreiches Studium und ein zufriedenes Berufsleben und ihrer Motivation, als Zeitzeugin ihre Erinnerungen zu teilen.
Ganz besonders interessierte die Schüler*innen dabei oft, wie Inge Auerbacher sich in bestimmten Situationen gefühlt oder wie sie bestimmte Ereignisse wahrgenommen hat:
„Wie haben sie während ihrer Zeit in Kippenheim die Judendiskriminierung wahrgenommen?“
„Wie war es für dich, den Davidstern zu tragen?“
„Was hattest du für ein Gefühl bei der Deportation?“
„Wie hast du dich gefühlt, als deine Familie und du in Amerika angekommen sind?“
Auch zu den psychischen Folgen des Erlebten hatten die Schüler*innen viele Fragen. Etwa wie Inge Auerbacher mit ihren Erinnerungen umgeht, ob sie das Erlebte heute noch belastet oder auch wie es für sie ist, über das Erlebte öffentlich zu sprechen.
„Was aus deiner Zeit im Ghetto Theresienstadt beschäftigt dich noch heute?“
„Wie sind Sie mit dem Trauma durch das Ghetto fertig geworden?“
Auch ihre Beziehung zu Deutschland heute und die Frage nach Kontinuitäten war immer wieder Thema der Interaktionen. Dies zeigte sich in Fragen wie:
„Können Sie den Deutschen verzeihen?“
„Wie ist es für Sie, heute in Deutschland zu sein?“
„Haben Sie nach 1945 Antisemitismus erlebt?“
„Gibt es heute Situationen, die dich an früher erinnern?“
Oft beschäftigte die Schüler*innen auch das Thema Handlungsspielräume. Dann wurde etwa danach gefragt, warum die Familie Auerbacher nicht früher emigriert sei (sie versuchte es, es gelang ihr aber nicht) oder ob bzw. ab wann sie von den Vernichtungslagern wusste. Auch die Frage, warum die Familie bei der Deportation 1942 überhaupt mitgegangen sei und sich nicht gewehrt habe, tauchte auf.
Immer wieder sprachen die Schüler*innen das interaktive Interview von Inge Auerbacher auch mit gegenwartsbezogenen Fragen an. Studierende der Hochschule Offenburg etwa wollten wissen, was Inge Auerbacher über die politische Entwicklung Deutschlands heute denke und was man gegen Antisemitismus tun könne. Auf die Frage, wie sie mit dem Rechtsruck in Deutschland umgehen würde, konnte keine passende Antwort ausgespielt werden. Stattdessen entstand aber in der Gruppe ein kurzes Gespräch über die Frage. Wenn wie hier das digitale Zeitzeugnis keine passende oder ausreichend befriedigende Antwort gibt, regt dies oft zum Gespräch und Nachdenken über ein Thema an.
Die digitalen interaktiven Interviews im Unterricht
Insbesondere die externen Schulbesuche nutzte das Vermittlungsteam auch, um von Lehrkräften zu erfahren, wie sie sich den Einsatz der interaktiven Interviews im Unterricht vorstellen können.
Perspektivisch sollen nämlich auf der Website http://www.fragnach.org für den Schulunterricht und andere Bildungskontexte noch mehr begleitende Materialien abrufbar sein, die teils partizipativ mit Schüler*innen erarbeiten werden. Sie sollen Akteur*innen in der Bildung dabei unterstützen, die interaktiven Interviews im Unterricht oder anderen Kontexten einzusetzen und die Interaktionen vorzubereiten. Die digitalen interaktiven Interviews mit Inge Auerbacher und Kurt S. Maier sind bereits online zugänglich. Interessierte können dort nach Registrierung mit den digitalen Zeitzeugnissen interagieren.
Ganz besonders im Fokus stand der Einsatz der interaktiven Interviews im Unterricht bei drei Fortbildungen für Lehrkräfte. Bei einer Veranstaltung im Rahmen eines Projekttages mit der VHS und der Kreuzburgschule Hainburg, einer Online-Infofortbildung des Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz und einem Workshop auf der Fachtagung „Prävention von Antisemitismus“ des Landesinstituts in Ingelheim konnte das Vermittlungsteam Lehrer*innen die Interviews als Tools für den Unterricht vorstellen und mögliche methodische und inhaltliche Zugänge diskutieren. Hier wurde deutlich, dass die digitalen interaktiven Interviews das Potential haben, nicht nur den Geschichtsunterricht mit konkreten Lebensgeschichten und einem besonderen Zugang zu den Erfahrungen von Überlebenden des Holocaust zu bereichern. Auch die Schwerpunktthemen des Vermittlungsangebots zur Ausstellung „Flucht und Exil –gestern und heute“; „Warum erinnern?“ und „Digitale Geschichtskultur“, die sich anhand der digitalen interaktiven Interviews mit Inge Auerbacher und Kurt S. Maier behandeln lassen, bieten vielfältige Anknüpfungspunkte an die Lehrpläne unterschiedlicher Fächer.
Mit der Fertigstellung des digitalen interaktiven Interviews von Inge Auerbacher durch einen intensiven Trainingsprozess wird also nicht nur die Ausstellung „Frag nach!“ bereichert. Auch für die Bildungsarbeit in Schulen und anderswo entsteht ein digitales Erinnerungsmedium, das das Lernen über den Nationalsozialismus und seine Bedeutung in der Gegenwart unterstützen kann.