Kleine Provenienzforschung mit großem Ergebnis

14. April 2022
von Chiara Rees

Das Thema Provenienzforschung weckt Assoziationen zu kolonialem Raubgut, wie beispielsweise den Benin-Bronzen oder dem Luf-Boot. Vielleicht kommen auch Zeitungsartikel oder Nachrichtenbeiträge über die Rückgabe von NS-Raubgut oder den weiterhin zu spürenden Folgen der Bodenreform der DDR in den Sinn. All diese großen Beispiele sind Gründe, wieso die Provenienzforschung in den letzten Jahren immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit gerät. Auch das Deutsche Buch- und Schriftmuseum betreibt in Verbindung mit der Deutschen Nationalbibliothek in größerem wie auch in kleinerem Rahmen Provenienzforschung.

Ex Libris, Stempel, Widmungen …

Ex Libris der Leipziger Stadtbibliothek.
Foto: DNB, Chiara Rees

Im Jahr 1951 verliert die Stadtbibliothek der Stadt Leipzig ihren Status als wissenschaftliche Bibliothek und wird zu einer Volksbücherei. In Folge dessen werden weite Teile des Bestandes an andere Institutionen abgegeben, darunter auch an das Deutsche Buch- und Schriftmuseum. Die Übertragung der Bestände wird in Inventarlisten vermerkt, den Büchern werden neue Signaturen gegeben. Jedoch geht bei der Digitalisierung des Katalogs so die eigentliche Herkunft des Buches verloren. Daher werden jetzt nachträglich alle Bücher, die auf diesen Inventarlisten mit der Herkunft „Leipziger Stadtbibliothek“ vermerkt wurden, nochmals manuell auf ihre Provenienzmerkmale untersucht. Dies sind beispielsweise Ex Libris, Stempel, Widmungen, Notizen und Autogramme, die von dem*der vorherigen Besitzer*in hinterlassen wurden. Alle Befunde werden dokumentiert. Ziel ist es, die Provenienz eines Buches auch für die allgemeine Öffentlichkeit transparent zu machen.

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Vorgehen

Bei den Untersuchungen wird das Buch außerdem auf andere Herkünfte, sogenannte Vor-Provenienzen, aus der Leipziger Stadtbibliothek überprüft. Das können beispielsweise Antiquariate sein, bei denen das Buch eingekauft wurde, oder auch private Vorbesitzende, deren Besitz aus (noch) unbekannten Gründen in der Stadtbibliothek gelandet ist. Diese Gründe können harmloser Natur sein, wenn z.B. der*die Vorbesitzer*in verstorben ist und seine*ihre Sammlung der Bibliothek vermacht hat. Allerdings kann manchmal auch von der Herkunft auf die Art und Weise geschlossen werden, wie der Bestand in die Bibliothek gekommen ist. So wurden bereits 2002 Bestände aus der Stadtbibliothek im Museum gefunden, die sich als verfolgungsbedingt entzogenes jüdisches Eigentum identifizieren ließen. Die Bestände gehörten Carl Sonntag jun., einem namhaften Leipziger Kunstbuchbinder, der 1930 verstorben ist und dessen Witwe Laura Sonntag aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in die USA fliehen musste. Die Bestände kamen zurück in die Stadtbibliothek, wo nach langer Suche nach den Erben Carl Sonntags jun., eine Restitution eingeleitet wurde, welche aber aufgrund mehrerer Faktoren nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte.[1]

Der Provenienz auf der Spur

Ivan Antonovyč Krušel’nyc’kyj, November 1932. Foto: ukrainische Wikipedia, Kruschelnycki I-2.jpg

Zeitweise führen aber auch auf den ersten Blick recht unscheinbare Indizien zu einer weitreichenden und durchaus aktuellen Geschichte. In dem Buch Vorspiele von Hugo von Hofmannsthal, 1908 im Insel-Verlag erschienen, lässt sich auf der Titelseite ein kleiner Namenszug finden. Nach einer Untersuchung konnten wir den Schriftzug I. Крушельницький, oder I. Krušel’nyc’kyj romanisiert, entziffern. Mithilfe einer schnellen Internetsuche stießen wir auf Ivan Antonovyč Krušel’nyc’kyj, oder Krushelnytsky, je nach Schreibweise.

Krušel’nyc’kyj war ein ukrainischer Schriftsteller, Graphiker und Übersetzer.[2] Er wurde am 12.11.1905 in Galizien als Sohn des Politikers und Schriftstellers Antin Krušel’nyc’kyj in eine intellektuell engagierte Familie hineingeboren, die im Laufe seines Lebens von mehreren schweren Schicksalsschläge getroffen wurde.

Indizien

Aber woher wissen wir denn, dass es sich ausgerechnet um diesen Ivan Krušel’nyc’kyj handelt? Es gibt mehrere Indizien, die dafür sprechen. Der eindeutigste Beweis ist die Ähnlichkeit zwischen der Unterschrift, die im Buch zu finden ist, und der Unterschrift unter einem seiner Drucke. Außerdem waren Ivan Krušel’nyc’kyj und Hugo von Hofmannsthal miteinander befreundet. Krušel’nyc’kyj widmete ihm sogar seinen ersten 1924 erschienenen Gedichtband Vesnjana pisnja [Frühlingslied] und Hofmannsthal autorisierte Ivan, einige seiner Gedichte in ukrainischer Übersetzung herauszugeben.[3] Es ist also durchaus möglich, dass Krušel’nyc’kyj das Buch persönlich von Hofmannsthal bekommen hat, auch wenn dies natürlich rein hypothetisch ist.

Titelseite des Buches "Vorspiele" von Hugo von Hofmannsthal mit Unterschrift am unteren Seitenrand
Titelseite des Buches mit Unterschrift am unteren Seitenrand.
Foto: DNB, Chiara Rees
Eine schwarz-weiß Grafik, die eine Allee zeigt. Im Vordergrund sind Büsche und ein Zaun zu sehen. Am unteren rechten Bildrand ist eine Unterschrift erkennbar.

I. Kruschelnyzkyj. „Gasse“ (Mascara, Feder). Gattung Rodowne, 1922, mit Unterschrift am unteren Seitenrand.
Foto: ukrainische Wikipedia, Krushelnytsky I-3.jpg

Lebendige Geschichten

Ivan Krušel’nyc’kyj und seine Familie sind dem Terror Stalins zum Opfer gefallen. Sein Vater und seine Mutter wurden von sowjetischen Behörden verhaftet und starben im Zusammenhang mit der Haft. Er selber und sein Bruder Taras wurden 1934 von sowjetischen Behörden hingerichtet. Insgesamt wurden sechs Mitglieder der Familie Krušel’nyc’kyj unter Stalin hingerichtet. Viele weitere litten unter seinem Regime.[4]

Das Buch Vorspiele erzählt nur einen kleinen Teil dieser Geschichte und hinterlässt auch viele offene Fragen. Auf welche Weise ist es in die Leipziger Stadtbibliothek gekommen? Durch welche Hände wurde es noch gegeben? Allenfalls erzählt es uns von der Freundschaft zwischen Ivan Krušel’nyc’kyj und Hugo von Hofmannsthal und trägt daher neben seiner eigenen Geschichte auch einen Beitrag zu der größeren Geschichte der Krušel’nyc’kyjs bei. Objekte können eine ganze Lebensgeschichte erzählen und durch Provenienzforschung kann die Lebensgeschichte der Objekte erzählt werden – im Großen und im Kleinen.

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[1] Mannschatz, Hans-Christian: Erfolglos abgeschlossen: Der Fall Sonntag. In: Dehnel, Regine (Hrs.): Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Vittorio Klostermann 2006. S. 361-366.

[2]https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_K/Kruselnyckyj_Ivan-Antonovyc_1905_1934.xml (Abgerufen am 04.04.2022)

[3]Simonek, Stefan: Hugo von Hofmannstal Galizische Implikationen, in: Fried, István (Hrg.) (unter Mitw. v. Márk Huba): Österreichisch-ungarisch-mitteleuropäische literarisch-kulturelle Begegnungen. Szeged: Lehrstuhl für  Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Szeged 2003, S. 45-66.

[4]https://euromaidanpress.com/2019/11/17/the-tragic-destiny-of-the-krushelnytsky-family-annihilated-by-the-communist-regime/ (abgerufen am 04.04.2022)

 

Chiara Rees ist derzeit Praktikantin im Deutschen Buch- und Schriftmuseum und untersucht insbesondere das Depositum der Leipziger Stadtbibliothek und seine Provenienzen. Ihr Beitrag gehört zu einer Reihe, die wir anlässlich des Tags der Provenienzforschung veröffentlichen. Die weiteren Beiträge zu dieser Reihe finden Sie hier und hier.

 

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:Ivan Antonovyč Krušel'nyc'kyj, November 1932. Foto: ukrainische Wikipedia, Kruschelnycki I-2.jpg (abgerufen am 12.04.2022)

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