Verschollene Bücher digital vereint

10. April 2024
von Bettina Farack und Emily Löffler

Wer dieses Blog regelmäßig liest, erinnert sich vielleicht noch: Vor einem Jahr beleuchteten wir anlässlich des Tags der Provenienzforschung die etappenreiche Provenienz zweier Zeitschriftenbände aus dem Bestand des Deutschen Exilarchivs in Frankfurt. Ursprünglich gehörten die beiden Bände zur Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, einer im 1872 gegründeten jüdischen Forschungs- und Studieneinrichtung. Als die Nationalsozialisten im Juni 1942 ein Unterrichtsverbot für Jüdinnen und Juden erließen, musste die Hochschule schließen. Ihre Bibliothek wurde vom Reichssicherheitshauptamt beschlagnahmt und über deren Bergungsdepots und Bücherlager weit zerstreut. Die beiden Zeitschriftenbände im heutigen DEA-Bestand müssen sich nach 1945 in einem Depot im heutigen Polen befunden haben, da sie später in den Bestand der Universitätsbibliothek Póznan übernommen wurden. Als Dubletten aus deren Bestand wieder ausgesondert, wurden sie in den 1990ern über den Berliner Antiquariatsbuchhandel für das Exilarchiv angekauft.

Die Rekonstruktion der Provenienz macht somit deutlich, dass die beiden Zeitschriftenbände im Kontext der NS-Verfolgung beschlagnahmt und entzogen wurden. Wie gehen wir mit diesem Befund um, und was ist mit den Bänden passiert, seit wir ihre Herkunft kennen?

Da die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums nach 1945 nicht neu begründet wurde, gibt es heute keinen Rechtsnachfolger, an den sie zurückgegeben werden könnten. Physisch befinden sich die beiden Bände daher weiterhin im Bestand des Deutschen Exilarchivs. Im digitalen Raum jedoch sind die beiden Bände inzwischen Teil einer weiteren Bibliothek geworden: Der Library of Lost Books.

Gemeinsam auf Büchersuche

grafische Darstellung einer Hand eines Kellners, die auf einem Tablett mehrere Bücher balanciert.

Die Library of Lost Books ist eine internationale Citizen Science Initiative. Sie zielt darauf ab, an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums sowie an alle dort Tätigen und Lernenden zu erinnern. Im Fokus steht dabei die ehemalige Bibliothek der Hochschule, denn diese Bücher erzählen die Geschichten der Menschen, durch deren Hände sie gewandert sind. Als Herzstück der Hochschule besaß die Bibliothek eine bedeutende Sammlung von etwa 60.000 Büchern zur jüdischen Geschichte und Kultur.

Bisher wurden nur etwa 5.000 der vermissten Bücher wiedergefunden. Neben den zwei Bänden im Deutschen Exilarchiv wurden weitere Bücher in Städten wie Prag, London, Berlin, Heidelberg, Frankfurt, Los Angeles, Potsdam, Jerusalem, New York und Mexiko City gefunden. Angesichts des ursprünglichen Bestandes ist das nicht viel. Das soll sich ändern. Aus diesem Grund haben die Leo Baeck Institute in Jerusalem und London einen umfassenden Feldversuch gestartet. Neben Fachleuten wie Historiker*innen, Mitarbeitenden in Archiven und Bibliotheken und Provenienzforschenden wird insbesondere die interessierte Öffentlichkeit zur Teilnahme aufgerufen, um bei der Suche nach den verschollenen Büchern zu helfen. Alle die wollen, sind eingeladen, mitzumachen.

grafische Darstellung eines Laptop-Bildschirms, auf dem eine Anleitung steht, wie man sich auf Büchersuche begeben kann.
(c) www.libraryoflostbooks.com

Dabei verfolgt die Library of Lost Books zwei Ziele: Zum einen sollen möglichst viele der verlorenen Bücher der Hochschule gefunden werden. Zum anderen erprobt das Projekt, wie Provenienzforschung effektiv in die historische Bildungsarbeit integriert werden kann. Die Einbindung des Publikums in die Suche nach den von den Nationalsozialisten geraubten Büchern soll helfen, jede Einzelne und jeden Einzelnen zu ermutigen, sich intensiv und aktiv mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Die Website der „Library of Lost Books“ ermöglicht es, die verschollenen Bücher digital wiederzuvereinen und versorgt die Besucher*innen mit dem nötigen Hintergrundwissen und Know-how für eigene Recherchen. Neben einer Datenbank und einer Karte der verstreuten Bücher bietet sie eine interaktive Online-Ausstellung, die Einblicke in die Geschichte der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gibt, die Plünderung der Bücher durch die Nationalsozialisten thematisiert und die Bemühungen zur Rettung der verbliebenen Bücher nach dem Krieg darstellt. Diese Online-Ausstellung wird von einer mobilen Installation ergänzt, die in Europa, Israel und den USA an Orten präsentiert wird, an denen heute Bücher der Hochschule aufbewahrt werden.

Digitale Rückkehr in die Herkunftsbibliothek

Die komplexen Wege der – teils erzwungenen – Bibliogmigration können die Nutzenden digital über die interaktive Weltkarte nachvollziehen. Zugleich gibt die Datenbank mit ihrer Liste der verschollenen und wiederaufgetauchten Bände Einblicke in die Spezialisierungen der Hochschule und macht sichtbar, welche Facetten jüdischer Kultur durch die NS-Verfolgung verloren gingen oder gerettet werden konnten.

Auch die beiden Zeitschriftenbände aus dem DEA sind inzwischen in der Datenbank veröffentlicht:

Gemeindeblatt der deutsch-israelitischen Gemeinde zu Hamburg, 12/13 (1936/37)

Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 9/10 (1933/34)

Sollten im Exilarchiv weitere Fundstellen aus der Hochschulbibliothek auftauchen, werden wir auch diese in der Datenbank ergänzen. Denn die Suche nach den Büchern geht weiter – und Sie können sich daran beteiligen.

Dieser Beitrag gehört zu einer Reihe, die wir anlässlich des Tags der Provenienzforschung 2024 veröffentlichen. Die beiden ersten Beiträge zu der Reihe finden Sie hier und hier.

Emily Löffler und Bettina Farack

Dr. Emily Löffler ist in der Deutschen Nationalbibliothek für die Provenienzforschung verantwortlich. Bettina Farack erforscht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leo Baeck Institute Jerusalem die Nachkriegs-Zerstreuung der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:(c) www.libraryoflostbooks.com

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