Von A wie Autopsie bis Z wie zurückgeben

8. April 2024
von Emily Löffler

Bereits zum sechsten Mal findet am kommenden Mittwoch der Tag der Provenienzforschung statt: Sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt und andernorts in Deutschland werden zahlreiche Bibliotheken, Museen und Archive in Führungen oder Vorträgen vor Ort, aber auch digital über Social Media und Blogposts Einblick in die Recherchen zur Herkunft ihrer Sammlungen geben. Ins Leben gerufen wurde dieser Aktionstag vom Arbeitskreis Provenienzforschung, um die sonst eher hinter den Kulissen stattfindende Forschung zu Sammlungsgeschichte und Objektbiografien in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen.

Dieses Jahr nehmen wir den Tag der Provenienzforschung zum Anlass, um in einer Themenwoche Einblicke in die Provenienzforschung der DNB zu geben. Mit dem heutigen Auftakt wollen wir Sie ins Thema einführen, indem wir einige häufig gestellte Fragen beantworten.

Was ist Provenienzforschung?

Der Begriff „Provenienz“ leitet sich aus dem lateinischen „provenire“ = herkommen ab und bedeutet so viel wie Herkunft. In Museen, Bibliotheken und Archiven gehört das Dokumentieren der Herkunft von Objekten seit jeher zur Erschließung der Sammlungsbestände. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Provenienzforschung allerdings spezifischer auf die Aufarbeitung von historischem Unrecht fokussiert: Zahlreiche Kultureinrichtungen überprüfen inzwischen systematisch, ob sich in ihren Sammlungen zum Beispiel NS-Raubgut befinden könnte. Darunter versteht man Objekte, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund von rassischer, politischer, religiöser oder weltanschaulicher Verfolgung ihren rechtmäßigen Eigentümer*innen entzogen wurden. Auf einen solchen Entzugskontext zu prüfen sind Kulturgüter, die vor 1945 geschaffen wurden und nach 1933 in eine öffentliche Sammlung gelangt sind. Ebenfalls vermehrt in den Fokus der Forschung gerückt ist in den letzten Jahren außerdem Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, das unter Ausübung von Gewalt oder unter Ausnutzung kolonialer Machtverhältnisse in europäische Museen und Bibliotheken gelangt ist.

Wie geht man vor, um die Herkunft eines Buchs zu ermitteln?

Die Recherche kann an verschiedenen Ausgangspunkten beginnen: Für die ab 1933 in den Bestand der Deutschen Bücherei Leipzig eingelieferten Monografien z.B. geht sie in der Regel von den Zugangsbüchern aus. In diesen ist jedes Buch mit Einlieferungszeitpunkt und bibliografischen Informationen verzeichnet. Bei Bänden, die nicht direkt als verlagsneues Belegexemplar in den Bestand kamen, wurden oft zusätzliche Vermerke über die Einlieferer ins Zugangsbuch eingetragen. Anhand dieser Vermerke lässt sich z.B. feststellen, wenn Autor*innen persönlich Exemplare ihrer Publikationen einschickten, die Deutsche Bücherei Werke antiquarisch ankaufte oder wenn Mitarbeitende von ihren Urlaubsreisen Werbebroschüren mitbrachten, die im Bestand noch fehlten. Hellhörig werden Forschende allerdings, wenn Polizeistellen oder NS-Organisationen Bücher einlieferten: Dies kann ein Indiz dafür sein, dass die Bücher aus einer Beschlagnahme stammen.

Auf einem Tisch liegen das aufgeschlagene Zugangsbuch des Jahres 1933 sowie ein Stapel Bücher mit Signaturen aus dem gleichen Jahr.
Zugangsbuch und Exemplare aus dem Jahr 1933. Foto: DNB, Emily Löffler

Bände, bei denen anhand des Zugangsbuchs ein Anfangsverdacht festgestellt wird, werden in einem zweiten Schritt einer Autopsie unterzogen, also in Augenschein genommen. Bei dieser Untersuchung prüfen wir, ob im Exemplar selbst Hinweise auf Vorbesitzer*innen vorliegen – etwa eingeklebte Exlibris und Etiketten, Besitzerstempel oder eingetragene Namen.

Ausgehend von diesen Hinweisen wiederum recherchieren wir mehr Informationen über die Vorbesitzer*innen und ihre Verfolgungssituation – dazu werden Datenbanken konsultiert, aber auch Archive aufgesucht oder Sekundärliteratur ausgewertet. Bestätigen diese Recherchen, dass es sich bei einem Werk um NS-Raubgut handelt, so versuchen wir, die Erb*innen der früheren Eigentümer*innen ausfindig zu machen, um mit ihnen eine faire und gerechte Lösung zu finden.

Seit wann betreibt die DNB Provenienzforschung?

Seit 2019 ist am Leipziger Standort der DNB eine festangestellte Referentin für Provenienzforschung tätig.

Etikett mit dem Wortlaut "Stiftug Curt Otto" im Vorsatz eines Buches
Etikett mit dem Vermerk „Stiftung Curt Otto“, Foto: DNB, Cornelia Ranft

Bereits vorher hat es aber am gleichen Standort verschiedene Projekte zu bestimmten Objektgruppen oder Herkunftskontexten gegeben. So wurde zwischen 2018 und 2020 im Projekt Provenienzrecherchen der Bestand der Serientitel und Schriftenreihen in den Blick genommen. Weil diese Bestandsgruppe nicht durch Zugangsbücher, sondern über eine Fortsetzungskartei erschlossen ist und diese nur wenige Herkunftsinformationen enthält, bildete in diesem Projekt die Autopsie der Bücher am Regal den Ausgangspunkt der Recherche. Die Durchsicht am Regal förderte Hinweise auf Personen und Körperschaften sowie Spuren alter bibliothekarischer Geschäftsgänge zutage. Sie führte außerdem zur Wiederentdeckung einer unbedenklichen, aber lange in Vergessenheit geratenen Provenienz: 1930 übergab der Jurist Dr. Hans Otto der Deutschen Bücherei eine Ausgabe der umfangreichen Tauchnitz-Edition, die seinem verstorbenen Bruder, dem Leipziger Verleger Dr. Curt Otto, gehört hatte. Noch heute erinnert ein eigenes Exlibris in den Bänden an diese Stiftung.

Ein weiteres, bereits in den 2000er Jahren durchgeführtes Forschungsvorhaben der DNB widmete sich der „Bücherverwertungsstelle Wien“. In dieser 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs gegründeten Stelle wurden beschlagnahmte Bücher aus aufgelösten Buchhandlungen und Verlagen oder aus den Privatbibliotheken von Geflüchteten gesammelt. Um ihre Sortierung und anschließende Umverteilung auf Bibliotheken des Deutschen Reichs zu organisieren, wurde Albert Paust von der Erwerbungsabteilung der Deutschen Bücherei nach Wien abgeordnet. Weil Paust im Zuge dieser Tätigkeit immer wieder Bücher für die Deutsche Bücherei auswählte, hat die Bücherverwertungsstelle auch in der Leipziger Bestandsgeschichte ihre Spuren hinterlassen. Im Lauf des Forschungsprojekts konnten rund 550 Bände identifiziert werden, die auf Provenienzhinweise durchgesehen und in Datenbanken dokumentiert wurden. Für Bücher aus dem Eigentum von Valentin Rosenfeld und Gottfried Bermann Fischer konnten wir inzwischen mit den Erb*innen faire und gerechte Lösungen finden. In anderen Fällen dauert die Suche nach den Erb*innen weiterhin an.

Warum liegt der Fokus bislang auf dem Leipziger Standort?

Die Entscheidung, die Provenienzforschung der DNB am Leipziger Standort zu verankern, ist historisch begründet. Die 1912 gegründete Deutsche Bücherei Leipzig ist nicht nur die ältere der beiden Vorgängereinrichtungen der heutigen Deutschen Nationalbibliothek, sondern weist darüber hinaus in ihrer Institutionengeschichte Verstrickungen mit der Zeit des Nationalsozialismus auf. Deren Erforschung durch den Historiker Sören Flachowsky hat gezeigt, dass die Anpassung der Deutschen Bücherei an den Nationalsozialismus sich durchaus auf die Bestandsentwicklung ausgewirkt hat. Nicht nur über die Bücherverwertungsstelle, sondern auch durch Übernahmen aus Polizeistellen oder Kontakte zum Sicherheitsdienst (SD) der SS versuchte die deutsche Bücherei, etwaige Bestandslücken zu schließen. Eine der Hauptaufgaben der Provenienzforschung in der DNB besteht daher darin, die Erwerbungen der Deutschen Bücherei der Jahre 1933-1945 systematisch zu prüfen.

Dass der Frankfurter Standort erst nach 1945 gegründet wurde, bedeutet aber nicht, dass hier keinerlei Forschungsbedarfe zu erwarten wären. So haben erste Stichproben im Deutschen Exilarchiv Hinweise darauf zutage gefördert, dass sich in der Bestandsgruppe der jüdischen Periodika in NS-Deutschland Exemplare mit Stempeln jüdischer Einrichtungen befinden, die in der NS-Zeit verfolgt und meist zwangsweise aufgelöst und enteignet wurden. Die Nachkriegsgründung allein garantiert also nicht dafür, dass Sammlungsbestände unbelastet sind, denn NS-Raubgut zirkulierte auch nach 1945 weiter und könnte über den antiquarischen Buch- und Kunsthandel oder aus privaten Nachlässen angekauft worden sein. Langfristig wird es daher erforderlich sein, die Provenienzforschung auch am Frankfurter Standort stärker zu etablieren.

Was sind faire und gerechte Lösungen?

Erstausgabe von Goethes "West-oestlichem Diwan". Auf der linken Seite des aufgeschlagenen vorderen Spiegels ist ein handschriftliches Widmungsgedicht aus dem Jahr 1840 zu sehen. Rechts wurde später das Exlibris von Emil und Jenny Baerwald eingeklebt, das aus einem ovalen Barockrahmen mit dem Wortlaut "Ex libris Emil und Jenny Baerwald" besteht.
Erstausgabe von Goethes „West-oestlichem Diwan“ mit einem Widmungsgedicht von 1840 und dem Exlibris von Emil und Jenny Baerwald, Foto: DNB, Emily Löffler

Durch die Washingtoner Prinzipien von 1998 sind öffentliche Einrichtungen in Deutschland dazu verpflichtet, NS-Raubgut in ihren Beständen zu identifizieren und mit den rechtmäßigen Eigentümer*innen oder deren Erb*innen eine faire und gerechte Lösung zu finden. Häufig nimmt diese Lösung die Form einer Restitution an, bei der die betreffenden Kulturgüter an die Erb*innen zurückgegeben werden. Neben der Rückgabe gibt es aber auch andere Lösungsansätze. So versuchen Museen oder Bibliotheken in manchen Fällen, die Kulturgüter von den Erb*innen zurückzukaufen, sodass sie weiterhin öffentlich zugänglich sind. Manchmal sind es auch die Erb*innen selbst, die sich einen solchen Verbleib im Bestand wünschen und sich deshalb für eine Dauerleihgabe oder eine Schenkung entscheiden. Bei Büchern besteht außerdem die Möglichkeit einer Digitalisierung, sodass die Erb*innen das physische Exemplar zurückerhalten, die Bibliothek aber weiterhin über das Digitalisat verfügen kann. Diesen Weg ist die Deutsche Nationalbibliothek bei der Rückgabe einer Goethe-Erstausgabe an die Erb*innen von Emil und Jenny Baerwald gegangen. In digitaler Form ist dieses Exemplar daher weiterhin in unserem Katalog abrufbar.

Emily Löffler

Dr. Emily Löffler ist in der Deutschen Nationalbibliothek für die Provenienzforschung verantwortlich.

Dieser Beitrag gehört zu einer Reihe, die wir anlässlich des Tags der Provenienzforschung 2024 veröffentlichen.

*Nachweis Beitragsbild auf der Startseite:DNB, Emily Löffler

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