Zeitzeigender Schmuck
Wie hätte er das auch ahnen können! Anfang der 90er Jahre wollte ein Kollege die Uhr an der Außenfassade ganz exakt stellen. Die Zeiger, die die Uhrzeit zum Deutschen Platz hin anzeigten, sollten auf die Sekunde genau gehen. Also gab er nicht nur 08:00 ein, sondern stellte die Sekundenanzeige ebenfalls ein, auf 08:00:00. Im korrekten Moment ließ der Kollege die Uhr wieder anlaufen. Nur, was er im Keller nicht mitbekam, war das seltsame Verhalten des Minutenzeigers. Dieser hatte sich aufgrund der Sekundenangabe in eben jenen Sekundenzeiger „verwandelt“. So tickte der große Zeiger nicht einmal pro Minute, sondern gleich sechzigmal. Kurz darauf meldete ein aufmerksamer Besucher das merkwürdige Vorgehen. Die Uhr wurde gestoppt und neu gestellt – diesmal nur mit Stunden und Minutenangaben. Gerüchten zufolge soll das Öl im inneren der Uhr sogar warm gewesen sein…
Bis heute zeigt die große Uhr über dem Haupteingang der Deutschen Nationalbibliothek allen Besucher*innen die Zeit; sie läuft autonom über einen eigenen Stromanschluss. Auch sonst ist die größte Uhr am Standort Leipzig wartungsarm. Ein Tropfen Öl in Jahr genügt, damit sich die Zahnräder weiterhin einwandfrei bewegen. Trotzdem kommt alljährlich eine regionale Wartungsfirma für Turmuhren, damit Zahlen und Splinte angemessen fest sitzen und die Sicherheit gewährleistet ist.
Ein Blick zurück auf die Zeit der Gründung und Innengestaltung lässt deutlich werden, dass Wanduhren vor 111 Jahren eine größere Rolle spielten. Sie waren Schmuck und brachten gleichzeitig Struktur in den Tagesablauf. Öffnung und Schließung der öffentlichen Bereiche wurden von der Uhrzeit bestimmt, weshalb bei der Errichtung in der Ausleihe, der Medienausgabe, den Lesesälen und Magazinen Uhren platziert wurden. In den letzten Jahren nahm die Zahl der Zeitanzeiger in den öffentlichen Bereichen deutlich ab. Es scheint, als wären Uhren dank Armbanduhr und Smartphone überflüssiger Wandschmuck…
Von den technischen Raffinessen der damaligen Zeit zeugen nicht nur die Rohrpostanlage und die Staubsaugeranlage, sondern ebenso die Installation der Uhren. Im Keller gab es eine Haupt- oder Mutteruhr mit einem Regulator und Pendel. Über Schaltkontakte und Kabel leitete sie an alle anderen Uhren im Haus die korrekte Uhrzeit weiter. Der Wartungsaufwand war dadurch sehr gering und es wurden keine Batterien benötigt. Im Übrigen war die Hauptuhr in der Telefonzentrale untergebracht. So konnten die Telefonist*innen sehen, ob die Uhr lief.
Im Zuge einer Modernisierung Anfang der 90er Jahre stand erstmalig Technik zur Verfügung, die das Kabel überflüssig machte. Die meisten Uhren in den öffentlichen Bereichen wurden durch Funkuhren ausgetauscht, damit die Uhren auch unabhängig von der Sanierung funktionierten. Die Uhren im Großen Lesesaal sowie die im Medien- und Zeitschriftenlesesaal, die nur von einer Wand getrennt werden, bildeten davon keine Ausnahme. Seitdem funktionieren sie mit einer Zehnjahresbatterie. Diese hat, wie der Name sagt, eine beachtlich lange Lebensdauer und muss entsprechend selten gewechselt werden.
Die Umstellung zum Funk brachte jedoch andere Herausforderungen mit sich: Die Uhren inmitten des Gebäudes hatten keinen Empfang, da die Wände zu dick für das Signal waren. Deshalb wurden bei vielen Uhren zusätzliche, nach außen gerichtete Antennen angebracht, um das Funksignal zu empfangen. Auch die Hauptuhr im Keller bekam eine solche zusätzliche Antenne. Bis heute versorgt sie viele Uhren in den nicht öffentlichen Bereichen, so zum Beispiel die Uhren in den Magazinen und den Kellerbereichen.
Im Übrigen haben wir in den Dienstbereichen unserer beiden Standorte zwei gleiche Uhren nebeneinander hängen. Die eine ist mit Leipzig betitelt, die andere mit Frankfurt am Main. Auch hier dienen die Uhren einem Symbol: wir haben zwar zwei Standorte, sind aber eine Bibliothek.
So verschieden die Zeitanzeiger auch sein mögen – unsere Kollegen der Haustechnik kennen sie alle. Von den polwechselnden Uhren in den alten Magazinen, die nur mit Raffinesse gestellt werden können, bis zu der Uhr aus Keramik im 3. Obergeschoss.
111-Geschichten-Redaktion
Zum 111. Jubiläum haben wir, die Beschäftigten der Deutschen Nationalbibliothek, in Erinnerungen und Archiven gestöbert. Von März bis November präsentieren wir hier 111 Geschichten aus der Deutschen Nationalbibliothek.