35 Jahre SDD – HAB Wolfenbüttel
Im fünften Teil der Reihe zum Jubiläum der Sammlung Deutscher Drucke (SDD) hat Dr. Hartmut Beyer von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB Wolfenbüttel) unsere Fragen beantwortet.
Was bedeutet die Sammlung Deutscher Drucke für Sie?
Die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel hat als außeruniversitäre Forschungseinrichtung die Erschließung und Erforschung ihres Altbestandes als zentrale Aufgabe. Dabei ermöglichen wir nicht nur Forschung, sondern wir betreiben und initiieren sie auch selbst, durch Drittmittelprojekte, Tagungen, die Vergabe von Stipendien und das Unterhalten von wissenschaftlichen Arbeitskreisen. Neben anderen Sammlungen, wie den mittelalterlichen Handschriften, stehen besonders die frühneuzeitlichen Drucke im Fokus dieser Aktivitäten. Mit über 63.000 Titeln in knapp 100.000 Exemplaren haben besitzen wir die meisten deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts überhaupt. Herzog August der Jüngere (1579–1666) brachte in Wolfenbüttel die zu seiner Zeit weltgrößte Bibliothek zusammen, dabei sammelte er gerade auch die neuere Literatur, freilich nicht nur die deutsche. Augusts Sammlung wurde durch spätere Erwerbungen, besonders durch die Übernahme zahlreicher Fürstinnen- und Fürstenbibliotheken im 18. Jahrhundert, stark vermehrt. Die Sammlung Deutscher Drucke schreibt den universalen Anspruch der Wolfenbütteler Bibliothek in gewisser Weise fort. Sie erlaubt es der Forschung, über die Zufälle der lokalen Überlieferung hinaus ein Gesamtbild zu erhalten und auch die Bücher mit einzubeziehen, die aus irgendeinem Grund keinen Eingang in die Sammlung fanden. Besonders häufig erwerben wir daher süddeutsche und katholische Literatur, aber auch kleinere Schriften wie Hochzeitsgedichte oder Kalender, die eher verloren gingen als die umfangreichen Werke.
Welche Meilensteine setzt Ihre Sammlung?
Wir versuchen, alle Ausgaben deutscher Drucke des 17. Jahrhunderts in unseren Bestand zu bekommen. Besondere Aufmerksamkeit galt der Vervollständigung der Sammlung deutscher Barockliteratur. Dazu gehören Autoren wie Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen oder Andreas Gryphius, die auch über Fachkreise hinaus bekannt sind. Das 17. Jahrhundert bringt den Beginn einer bewusst gestalteten Nationalliteratur mit sich, verbunden mit Versuchen zur Kanonisierung der deutschen Sprache. Großen Einfluss hierauf haben die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, die als deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts betitelt wurde. Wir setzen weitere Schwerpunkte in der Naturwissenschaft bei den Alchemica sowie bei Emblembüchern – beides sind eher teure Bücher, die im hohen Maße typisch für das Denken und die visuelle Kultur der Epoche sind. Mehrfach gelang uns die Erwerbung großer Mengen an unbekannten Gelegenheitsschriften – Hochzeits- und Funeralschriften, Dissertationen und anderes – die gerade wegen ihrer Anlassgebundenheit einen großen Wert für die Forschung haben.
Wie entscheiden Sie, welche Druckerzeugnisse in Ihre Sammlung aufgenommen werden?
Beim Auswerten von Auktions- oder Antiquariatskatalogen prüfen wir anhand einer Reihe von Kriterien, ob dieses Werk für die Sammlung Deutscher Drucke relevant ist. Dazu muss es im deutschen Sprachraum oder in deutscher Sprache zwischen 1601 und 1700 gedruckt sein und in Lettern gesetzten Text enthalten; Druckgraphiken wie Landkarten und Porträts scheiden aus. Natürlich kaufen wir keine Dubletten, es muss also zumindest eine noch nicht bei uns vorhandene Ausgabe sein. Weiter muss der Druck vollständig und möglichst in einem guten Zustand sein, was nicht immer leicht zu beurteilen ist, wenn man ihn nicht vorliegen hat. Bücher mit handschriftlichen Anmerkungen oder so genannte durchschossene Exemplare sind gerade besonders interessant, weil sie die zeitgenössische Beschäftigung mit dem Text dokumentieren.
Die verteilte Nationalbibliothek – was assoziieren Sie damit?
Die verteilte Nationalbibliothek ist eine leistungsfähige, weil lose organisierte Form der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Altbestandsbibliotheken. Sie ist in ihrer jetzigen Form ein Produkt der Bibliothekslandschaft des späten 20. Jahrhunderts, mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung als bestimmende Faktoren, die zudem vor der groß angelegten Digitalisierung des Kulturguts entstanden ist. Für die „deutschen“ Drucke vergangener Jahrhunderte entstand so ein analoges Corpus, wie es in dieser Fülle eine einzelne Bibliothek nicht hätte zusammenbringen können. Dieses Corpus bildet einen wichtigen Baustein der schriftlichen Überlieferung und eine Materialbasis für seine digitale Erschließung, macht aber die übrigen Altbestandsbibliotheken keinesfalls überflüssig. Die regionale Überlieferung, wie sie u. a. von Landesbibliotheken gepflegt wird, ermöglicht es überhaupt erst, den einzelstaatlichen Traditionen und der kulturellen Dichte vieler Städte und Regionen gerecht zu werden. Auch ist zu bedenken, dass zu keinem Zeitpunkt in Deutschland nur deutsche Drucke gesammelt oder gelesen wurden. Forschende haben zwar ein Interesse an einer guten Erhaltung und Erschließung des nationalen Kulturguts, die von uns gezogenen Grenzen zwischen den Jahrhunderten und den heutigen Staaten sind aber dem Erkenntnisprozess hinderlich und entsprechen nicht der polyglotten, auf die Antike zurückgreifenden und paneuropäischen Kultur früherer Zeiten.
Wie beeinflussen Druckerzeugnisse das gesellschaftliche Miteinander?
Druckerzeugnisse sind als Medien der Information und Unterhaltung etwas aus der Mode gekommen, aber dennoch allgegenwärtig, man denke an die Prospekte im Briefkasten und die Zeitschriften im Wartezimmer beim Arzt. Der Einfluss von gedruckten Büchern und Schriftstücken ist schwer zu bewerten, man muss jedoch damit rechnen, dass er weit über die Informationsvermittlung durch Lesen hinausgeht. Die Besichtigung des Bücherregals einer fremden Person liefert vielfältige Einblicke in Erfahrungen, Vorlieben und Charaktereigenschaften, sie erlaubt es zudem, gemeinsame Interessen schnell zu identifizieren. Der Erwerb eines Handbuchs gibt den Besitzenden ein Sicherheitsgefühl angesichts eines neuen oder komplexen Wissensgebiets und weist sie als potenzielle Mitglieder der Fachcommunity aus. Solche Funktionen von Druckerzeugnissen werden durch die Digitalisierung der meisten Lebensbereiche nur zum Teil substituiert, oft gewinnen sie gerade dadurch an Bedeutung, dass das gedruckte Medium nicht mehr alternativlos ist. Aber auch zur Zeit des Handpressendrucks wurden Bücher nicht nur von Einzelpersonen gelesen. Große Bibliotheken waren eine Art vornehmes Sightseeing-Ziel, es wurden Führungen zu Büchern wie zu Instrumenten, Naturalien und Kuriositäten abgehalten. Unmengen an erhaltenen Leichenpredigten und anderen Funeralia zeigen, wie wichtig der Buchdruck für die soziale Außendarstellung und die Selbstvergewisserung angesichts des Lebensendes war. Auch die beliebten, zum Aushängen oder Vorlesen bestimmten Einblattdrucke zeugen von der großen Breitenwirkung der Druckproduktion, weit über die kaufkräftigen und gebildeten Kreise hinaus.
Welche Balance finden Sie zwischen physischer und digitaler Sammlung?
Eine zeitgemäße bibliothekarische Erschließung historischer Drucke beinhaltet auch die Digitalisierung, nicht nur als Images sondern zunehmend auch als durchsuchbare Volltexte. Da wir im 17. Jahrhundert keinerlei Beschränkungen durch das Urheberrecht haben und auch die Masse unserer SDD-Erwerbungen (200–300 Titel im Jahr) noch zu bewältigen ist, gibt es im Prinzip keinen Gegensatz zwischen physischer und digitaler Sammlung. Schwierig wird es, wenn unikale Drucke aus konservatorischen Gründen nicht digitalisiert werden können; in diesem Fall hat der Originalerhalt Vorrang. Wir können auf den Erwerb einzelner Titel auch verzichten, wenn sie in anderen deutschen Sammlungen (bevorzugt den SDD-Bibliotheken) vorhanden und digitalisiert sind. Das ist etwa vorteilhaft, wenn Drucke sehr teuer angeboten werden, ohne dass ein entsprechender Nutzen des Originals für die Forschung absehbar ist.
Schildern Sie bitte kurz eine Begegnung aus den letzten 35 Jahren zum Schmunzeln.
Auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse herrschte in früheren Jahren ein großes Gerangel um die Alten Drucke. Erschwert wurde die Situation durch ein striktes First-Come-First-Served-Prinzip. Das führte dazu, dass die Kaufinteressierten bei Eröffnung der Messe um die Wette zum Stand mit den begehrtesten Stücken rannten. Unter den Referentinnen und Referenten der Sammlung Deutscher Drucke kursierte der Hinweis, man solle auf gute Laufschuhe achten. Nachdem es mehrfach zu Auseinandersetzungen und zu umgeworfenen Teilen von Ständen kam, entschied sich die Messeleitung, ein Losverfahren einzuführen, wobei es bis heute geblieben ist.
Wie sehen Sie die Zukunft der Druckerzeugnisse in Bibliotheken in den nächsten Jahrzehnten?
Während im Bereich Unterhaltung, Bildung und Fortbildung das gedruckte Buch wichtige Funktionen erfüllt, sind in der wissenschaftlichen Arbeit digitale Medien den gedruckten seit langem klar überlegen. Für Forschende zählt der schnelle und unkomplizierte Zugang zum Medium sowie dessen Zitierbarkeit und langfristige Verfügbarkeit, was Bibliotheken gut, wenn auch teils mit einigem Aufwand, realisieren können. Die Hürden für die Digitalisierung liegen hier weniger im technischen als im rechtlichen Bereich: Die zahlreichen urheberrechtlich geschützten analogen und digitalen Werke können nur zum Teil und mit großem finanziellem Aufwand von Bibliotheken bereitgestellt werden, so dass der analoge Erwerb im Zweifelsfall bevorzugt wird – dies setzt freilich voraus, dass man Magazingebäude, Binde- und Klebestellen sowie das an der Ausleihe und Bereitstellung beteiligte Personal als gegeben voraussetzt. Ökonomischer und leistungsfähiger für alle Beteiligten sind Open-Access-Modelle, in denen die Wissenschaft ihre Erkenntnisse von Anfang an zur allgemeinen und kostenfreien Nutzung bereitstellt. In den nächsten Jahrzehnten ist mit einem Nebeneinander weiterhin analog erscheinender Medien mit lizenzierten und frei verfügbaren digitalen Ressourcen zu rechnen, was die Arbeit der Bibliotheken aufgrund der verschiedenen Workflows nicht einfacher macht.
Wie sieht ein Buch von 2089 (100 Jahre SDD) aus, was muss es haben?
Wahrscheinlich fehlt es mir an Imagination, aber ich vermute, dass es auch 2089 gedruckte Bücher gibt. Erwarten würde ich aber eine stärkere Ausdifferenzierung der Medienformen, bei der das gedruckte Buch den Anwendungsbereichen vorbehalten bleibt, in denen es noch Käufer findet (Romanliteratur, Ratgeber, Handbücher, Bildbände, Bilderbücher etc.). Auch Teile der Geisteswissenschaften werden auf das gedruckte Buch nicht verzichten wollen. Die primäre Verbreitungsform von Büchern wird aber eine elektronische sein und sich auf den Wiedergabegeräten abspielen, die die meiste Akzeptanz finden. Dabei sind Bücher nicht notwendigerweise noch das, was wir uns darunter vorstellen. Textliche Kommunikation wird sowohl im professionellen als auch im Freizeitbereich durch Medien und Plattformen übernommen, die weder von einem Verlag vertrieben noch linear gelesen werden. Die Anforderungen an solche Plattformen sind, dass sie den praktischen sowie emotionalen Bedürfnissen der Nutzerschaft entsprechen und dass sie überhaupt eine kritische Masse an Nutzenden gewinnen. Zu erwarten ist also eine Vielfalt an Formaten, die sowohl sehr kurzlebig als auch erstaunlich persistent sein können.
Dr. Hartmut Beyer
Dr. Hartmut Beyer ist Leiter der Abteilung Alte Drucke an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.