35 Jahre SDD – UB Frankfurt
Im zweiten Teil der Reihe zum Jubiläum der Sammlung Deutscher Drucke (SDD) haben Hans Eckert, Daniela Gimbel, Dr. Volker Michel und Eva-Susanne Wiesner von der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main (UB Frankfurt) auf unsere Fragen geantwortet.
Was bedeutet die Sammlung Deutscher Drucke für Sie?
Daniela Gimbel
Für mich persönlich ist die Sammlung Deutscher Drucke ein wesentlicher Anteil in meinem täglichen Arbeitsleben mit vielen unterschiedlichen Facetten. Das dahinter stehende Projekt selbst halte ich für auf vielen Ebenen wichtig. Das 19. Jahrhundert, das die UB Frankfurt betreut, ist historisch ein relevanter Zeitraum, dessen Entwicklung direkte Auswirkungen auf unser heutiges Leben hat. Durch die Sammlung Deutscher Drucke und die Bearbeitung der entsprechenden Erwerbungen konnte ich viel über das 19. Jahrhundert und das Leben der Menschen lernen. Der Erwerbungsprozess hat mir die Welt zu Antiquariaten und Auktionshäusern geöffnet, welche ein eigener Kosmos ist.
Dr. Volker Michel (SDD-Referent)
Sammeln, Erschließen, Bereitstellen, was lange Jahre von Bibliothekar*innen nicht für sammlungswürdig erachtet wurde, was eine Kollektion von Ephemerem ergibt, die bei näherer Betrachtung wahre Schätze beinhaltet. Aus Forscherperspektive bzw. aus Sicht eines Geisteswissenschaftlers/Germanisten kommen mir häufig Ideen, was man über diese/jene Erwerbung schreiben könnte, wie sich diese mit den vielen anderen aus dem gleichen Fachspektrum analysieren ließe, etwa die zahlreichen Titel an deutscher Trivialliteratur/Herz-Schmerz-Romane, die im 19. Jahrhundert weit mehr gelesen wurden, als Titel, die wir heute als „Klassiker“ bezeichnen.
Welche Meilensteine setzt Ihre Sammlung?
Daniela Gimbel
Die UB Frankfurt ist für den Bereich 1801 bis 1870 zuständig. Hier liegen die Schwerpunkte historisch gesehen auf den Themen Revolution 1848 (besonders in Frankfurt bedeutend, stadtgeschichtlich und in der Sammlung der UB), industrielle Revolution und der Weg in den Krieg 1870. Diese teils radikalen Umbrüche in Gesellschaft und Politik bilden sich auch in der Sammlung ab. Aktuell ist ein Digitalisierungsprojekt abgeschlossen worden, gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das sich mit dem Alltagsleben im 19. Jahrhundert befasst hat. Hierzu konnte die SDD wertvolle Beiträge liefern, die in ein geplantes Hessisches Kulturportal einfließen sollen.
Dr. Volker Michel (SDD-Referent)
Im besagten Digitalisierungsprojekt wird die ganze thematische Bannbreite unseres Sammlungsspektrums sichtbar: Neben naturwissenschaftlichen und medizinischen Veröffentlichungen sind Firmenkataloge darunter, Reisebeschreibungen aus Nah (Taunus) und Fern (Ägypten), christliche Erbauungsbücher und Judaica, Benimmregeln, Ratgeberliteratur aller Art (von der guten Eheführung bis hin zu Tipps für Amerika-Auswanderer), Kochbücher, praktische Empfehlungen für die Haus und Landwirtschaft, Exerzieranleitungen, Sensationsberichte im Stile von True Crime-Stories…
Wie entscheiden Sie, welche Druckerzeugnisse in Ihre Sammlung aufgenommen werden?
Eva-Susanne Wiesner
Unsere Erwerbungsrichtlinien geben neben den Aspekten, wie Erscheinungsort und -jahr, Sprache und Publikationsform auch solche wie den Zustand des Bandes, das Vorhandensein eines Originaleinbandes und Angemessenheit des Preises vor.
Die verteilte Nationalbibliothek – was assoziieren Sie damit?
Hans Eckert
Die Arbeit an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen chronologischen Zeitsegmenten, aber mit EINEM Ziel: Erwerben, Erschließen, Bewahren und Digitalisieren von seltener, oft unikaler, deutschsprachiger oder im deutschen Sprachgebiet erschienener Literatur.
Eva-Susanne Wiesner
Die sinnvolle Aufteilung von Sammlungszeiträumen entsprechend bereits bestehender Sammlungen und der damit verbundenen Expertise für diese Zeit und mit dem GEMEINSAMEN Ziel: Die Lücken im Nachweis und Vorhalten der Druckerzeugnisse des deutschsprachigen Raums und der deutschsprachigen im Ausland erschienen Literatur zu schließen.
Welche Balance finden Sie zwischen physischer und digitaler Sammlung?
Hans Eckert
Alle neu für die SDD erworbenen Monografien werden digitalisiert. Ebenso erfolgt die retrospektive Digitalisierung von bereits früher (vor 2011) erworbenem Material. Die digitale Sichtbarkeit erschließt neue, auch außeruniversitäre, Nutzerschichten und schont das physische Objekt, was die Bibliotheken aber nicht von Aufgaben der Bestandserhaltung entbindet. Dem Bewahren kommt eine große Bedeutung zu.
Welche besondere Begegnung hatten Sie mit einem Buch?
Daniela Gimbel
Grundsätzlich sind die Begegnungen mit den Menschen hinter dem Buch faszinierend. Mit Menschen, die – je nach Geburtsjahr – seit 150 Jahren verstorben sind und in einer völlig anderen Lebenswelt geboren wurden, aufwuchsen und gelebt haben als wir dies tun. Diese Menschen können die Verfasser*innen der Bücher sein (vom berühmten Dichter über den politischen Aktivisten, von der Dame der Gesellschaft in Pseudonym bis zur Handarbeitslehrerin oder der bürgerlichen Köchin), aber auch Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, denen Bücher gewidmet wurden. Insbesondere „Hinterlassenschaften“ von Eigentümern geben einen Blick ins Leben: eine kurze Notiz zum Besitz, ein Lesezeichen, ein komplett bearbeitetes Buch, ein Eintrag neben einem Rezept, eine Reihe von Kindern, denen ein mathematisches Formelbuch gehört hat usw.
Dr. Volker Michel (SDD-Referent)
Auf der Suche nach einem ganz besonderen Geschenk zur Hochzeit einer Mitarbeiterin bin ich tatsächlich bei SDD fündig geworden. Besagte Dame heiratete einen Herrn aus der Nähe von Karlsruhe kommend und seines Zeichens Historiker. Nun haben wir tatsächlich eine Eheordnung für das Großherzogtum Baden von 1807 im SDD-Bestand, zum Glück schon von uns digitalisiert, die ich mit Unterstützung von Kolleg*innen aus der Restaurierungswerkstatt und Bestandserhaltung ausdrucken und hübsch binden ließ. Ein unikales Geschenk, das gut ankam und für Erheiterung sorgte (insbes. das Kapitel über eheliche Rechte und Pflichten).
Schildern Sie bitte kurz eine Begegnung aus den letzten 35 Jahren zum Schmunzeln?
Daniela Gimbel
Das schon erwähnte Formelbuch aus der Schulmathematik: 3 Namen von Jungs, jeweils durchgestrichen, der letzte Name ein Mädchenname, der Nachname durchgestrichen und neu ergänzt. Hier wurde ein Formelbuch in einer Familie von Kind zu Kind weitergereicht, bis es das letzte Kind auf dem weiteren Lebensweg begleitet hat.
Hans Eckert
Am besten erinnere ich mich an den versuchten Kauf eines Kinderbuches für die Sammlung Deutscher Drucke. Ich war zusammen mit einer Kollegin in Stuttgart, zu Zeiten als es noch Läufer gab. Wir ließen den Leichtathleten den Vortritt, erreichten aber geschwinden Schritts den Stand des Händlers, wo wir sofort mit der Begutachtung des Objektes begannen. Eine alte Dame, sicher schon weit in den Achtzigern, mit großen goldenen Ohrringen und einer winzigen grünen Handtasche, die etwas später eintraf, fragte uns sehr freundlich, ob sie das Buch einmal sehen dürfe, sie hätte dieses Buch als Kind von ihrem Vater geschenkt bekommen.
Wer könnte einer so netten Dame mit nostalgisch verklärtem Blick diesen Wunsch abschlagen? Dann wandte sie sich langsam, aber siegesgewiss lächelnd dem Antiquar zu, und sagte nur ein einziges Wort: »Gekauft!« Wir schauten uns verdutzt an und mussten unsere Niederlage eingestehen. Ich kann mich noch erinnern, dass die Dame das verpackte Büchlein triumphierend über dem Kopf schwenkte, als sie den Stand verließ. Seitdem gebe ich bei Messen und auch in Antiquariaten kein Buch mehr aus der Hand. Auch nicht an alte Damen mit grünen Handtäschchen…
Eva-Susanne Wiesner
Das Päckchen mit dem beim Antiquar bestellten Buch der Veterinärmedizin ist eingetroffen und wird ausgepackt. Der Band den ich kurze Zeit später in den Händen halte verströmt den würzigen Duft eines Kuhstalls, der mich binnen Sekunden in die Urlaubszeit meiner Kindertage auf einem Bauernhof im Schongau versetzt. Ganz offensichtlich hat dieser Band viele Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte, auf der Fensterbank des Kuhstalls seines Besitzers verbracht, immer griffbereit, falls eine Kuh Hilfe beim Kalben oder einer Erkrankung benötigte. So wird Alltagsleben des 19. Jh. mit allen Sinnen „erfahrbar“.
Wie sehen Sie die Zukunft der Druckerzeugnisse in Bibliotheken in den nächsten Jahrzehnten?
Daniela Gimbel
Insgesamt geht der Trend allgemein zu elektronischen Veröffentlichungen. Dies ist vermutlich der Schnelllebigkeit der aktuellen Zeit geschuldet: Änderungen sind einfacher umzusetzen, die Produktion mutmaßlich günstiger, das große Thema „KI“ steckt in den Kinderschuhen. Auch das Bibliothekswesen ist davon nicht verschont, die Änderungen in der RDA sind wesentlich kurzlebiger als es Änderungen in der RAK waren und liegen als Internetseite vor, nicht mehr gedruckt als Loseblattsammlung. Da wir uns im historischen Bereich des Buches bewegen, sind wir als Bibliothek ein Teil der Transformation vom physischen Buch zum Digitalisat, wobei Letzteres ohne Ersteres nicht existieren kann. Persönlich schätze ich, dass auch in den nächsten Jahrzehnten gedruckte Erzeugnisse bei Neuveröffentlichungen weiterhin eine Rolle spielen werden, wenn auch verändert: Kinder- und Jugendbücher, schöne Bücher mit Farbschnitt und Illustrationen (aktuell wieder aufkommend), der diebstahlsungefährdete Urlaubsschmachtfetzen für den Strand. Auf diese Veränderungen vonseiten des Buchmarktes werden Bibliotheken reagieren (müssen), weniger Papierexemplare brauchen weniger Platz aber nicht unbedingt weniger Personal (auch elektronische Veröffentlichungen möchten bearbeitet werden).
Historische Bestände sind da. Punkt. Es kommen keine Neuveröffentlichungen dazu, es werden Veröffentlichungen „wiederentdeckt“ und z.B. im Rahmen der Sammlung Deutscher Drucke erworben. Diese Bestände gilt es auch in Zukunft zu sammeln, zu konservieren, zugänglich zu machen. Wie dies technisch künftig angegangen wird, wird sich zeigen. Auch hier wird KI eine große Rolle spielen, die Bearbeitung durch Fachpersonal wird sich allein durch den Fachkräfteschwund verändern (müssen). Ein anderes Feld im Bereich der historischen Bestände wird weiterhin der Umgang damit sein. Schadstoffbelastungen (Stichwort „Schweinfurter Grün“), kritische Provenienzen und Konservierung der einzelnen Bände sind aktuelle Themen und werden dies in Variationen vermutlich auch in den nächsten Jahren bleiben.
Wie sieht ein Buch von 2089 (100 Jahre SDD) aus, was muss es haben?
Hans Eckert
Diese Frage kann nur mit einem großen Maß an Spekulation und Phantasie beantwortet werden. Selbst große Geister scheitern an ihr: Günter Karl Bose schreibt in seinem Buch „Elementum: über Typografie, Bücher und Buchstaben“: „Niemand weiß, ob mit dem Triumph von Turings Universaler Diskreter Maschine die Geschichte des Buches und die der Typografie an ihr Ende gekommen sind, ob das endgültige Verschwinden des Buches nur eine Frage von wenigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten ist oder ob das Buch ganz im Gegenteil, wie Umberto Eco und Jean-Claude Carrière glauben, „eine große Zukunft“ hat. „Möglich“, so Umberto Eco, „ist alles. Bücher können schon morgen nur noch für eine Handvoll unbekehrbarer Liebhaber von Interesse sein, die ihre rückwärtsgewandte Neugier in Museen und Bibliotheken befriedigen.“ (Eco, Carriére: Die große Zukunft des Buches. München 2010, S. 16) Ich befürchte, ich gehöre zu dieser Gruppe. Jedenfalls würde ich mir wünschen, dass die Haptik des Buches erhalten bleibt, auch wenn das bei weiter steigenden Papierpreisen und Herstellungskosten eher unwahrscheinlich ist. Ziemlich sicher bin ich, dass auch in Zukunft auf eine lesefreundliche Typografie geachtet werden wird. Die Grundbedingungen für eine als angenehm empfundene Lesbarkeit unterscheiden sich zwischen Buch und Bildschirm gar nicht so sehr.
SDD-Team der UB Frankfurt
Dr. Volker Michel (vorn) ist seit 2013 SDD-Referent an der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main und wird ganz wesentlich unterstützt von Eva-Susanne Wiesner (links), Hans Eckert (oben) und Daniela Gimbel (rechts) aus dem Sachgebiet Erschließung, Spezialbestände & Antiquaria.