Antike Metadaten
Nicht erst moderne Bibliothekar*innen finden, dass Metadaten eine gute Idee sind, um Medien aller Arten und Formen, wie Bücher und anderes Schriftgut, Musikalien, Karten und digitale Objekte zu katalogisieren, in Magazinen und Lesesälen zu archivieren und für die Ausleihe zu lokalisieren. Sie wurden nicht etwa im Zugwasser des Internets aus der Taufe gehoben, sondern entspringen einer uralten Idee und dem Bedürfnis, sich in einer großen Schriften- und Dokumentsammlung zurechtzufinden.
Der Alte Orient – die Bibliothek von Ḫattuša und Assurbanipals Bibliothek in Ninive
Unsere erste Zeitreise mit der TARDIS (library-style) auf der Suche nach den Ur-Metadaten führt uns in die Türkei und den Irak. Brechen wir auf nach Ḫattuša (oder Boğazköy), der Hauptstadt des Hethiter-Reichs im anatolischen Hochland und nach Ninive, dem mesopotamischen Sitz der assyrischen Könige. Wir finden uns in einer Zeit ca. zwischen dem 16. und dem 7. Jahrhundert vor Christus wieder, in der Literatur in Keilschrift überwiegend auf Tontafeln, seltener auf Stein, verewigt und in großen Bibliotheken aufbewahrt wird.
Die ersten Bibliothekare und Schreiber (damals noch überwiegend Männer), von deren Umgang mit Metadaten wir wissen, lebten und wirkten in diesen ehrwürdigen Häusern, die heute bedeutende archäologische Forschungsstätten sind.
In Ḫattuša gewöhnten sich unsere bibliothekarischen Ahnen eine für die Orientierung sehr wirksame Arbeitsweise an. Innerhalb eines zusammenhängenden Textes auf mehreren Tontafeln brachten sie auf der Rückseite jeder Tafel eine Trennlinie unter dem Textende an. Unter der Linie vermerkten sie die Nummer der einzelnen Tafel, die Namen des Schreibers und des Besitzers, die Anzahl der Zeilen sowie den Zustand der Tafel. Besonders wichtig waren der Titel des Werkes und die Anfangszeile der folgenden Tafel, um sich zu orientieren, an welcher Stelle in der Serie man sich gerade befand und welche die nächste Tontafel war. Auf der ersten und der letzten Tafel befand sich ein entsprechender Hinweis über den Anfang und das Ende des Gesamttextes. Dank dieses Vorläufersystems der heutigen Seitenzahlen und Kapitelüberschriften konnten die hattusischen Kollegen in einem der bis zu 100 Tontafeln umfassenden fortlaufenden Texte effektiv Ordnung in den Regalen halten. Die Tontafeln standen nebeneinander im Regal, aber genau wie die Bücher in unserer Zeit verirrte sich die ein oder andere Tafel gerne an eine falsche Stelle.
In der Fachsprache heißen diese bibliografischen Vermerke Kolophone (griechisch: Gipfel, Sitz, Schluss, letzter Schliff) und sind die ältesten Metadaten, die wir kennen. Da sie zumeist am Schluss eines Textes stehen, nennt man sie auch Explicit (lateinisch: Ende). Sie sind eine Urform der modernen Titelblätter und des Impressums, die wir auch heute noch überall in Büchern und anderen Medienwerken finden.
Eine ganz andere Quantität an Tontafeln hatten die Bibliothekar*innen in Ninive zu verwalten. 1846 grub das beherzte Archäologen-Team Austen Henry Layard und Hormuzd Rassam die lange vergessene, großartige Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal aus.
Assurbanipal (~ 669 – 631 v.Chr.), ein literarisch gebildeter Herrscher, erbaute eine riesige Privatbibliothek zur „königlichen Kontemplation“ am Ufer des Tigris, von denen über 26.000 Tontafeln erhalten sind – die größte uns bekannte Sammlung literarischer Werke des Alten Orients. Ähnlich wie in den hattusischen sind auf den mesopotamischen Tontafeln Informationen, Nachrichten, Verträge, aber auch literarische, didaktische, religiöse und astronomische Werke in Keilschrift verewigt. Und auch die hiesigen Schreiber notierten, um welche Art Text es sich handelte, wer der Schreiber war und wann und wo er den Text verfasst hatte.
Als Zeitreisende in Assurbanipals Ninive stehen wir nun vor massiven steinernen und hölzernen Bibliotheksregalen, in denen unzählige Tontafeln sortiert gelagert sind, und wollen den berühmten Gilgamesch-Epos im Original lesen – um ihn aufzufinden, sind wir für jeden Kolophon dankbar!
Natürlich könnten wir auch den aus Auflistungen entstandenen antiken Katalog konsultieren, den wir sowohl in Ḫattuša als auch hier vorfinden. Dieser ist voller wunderschöner Metadaten in Form von detaillierten bibliografischen Hinweisen für die Tontafel-Sammlungen. Doch mehr wollen wir über die Kataloge einstweilen nicht verraten, denn zu ihren Geheimnissen führt uns eine spätere Reise in die historische Metadatenlandschaft.
„Wunderschöne Metadaten“: Nach Lektüre dieser Artikel freue ich mich mit Ihnen an der Ästhetik der Daten über Daten.
Dank für die Einladung zur Reise durch die Metadaten-Landschaften, liebe Kolleginnen!